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Kann Telemedizin fehlende Ärzte auf dem Land ersetzen?

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Die Video-Sprechstunde stößt unter Medizinern im Land auf wenig Gegenliebe. Ein Arzt aus Neckarsulm ist jedoch von der Zukunftsfähigkeit überzeugt. In Stuttgart gibt es zudem ein Modellversuch.

Von Valerie Blass
Der Neckarsulmer Orthopäde und Unfallchirurg Boris Brand experimentiert seit rund drei Monaten mit der Online-Sprechstunde für ausgewählte Bestandspatienten. Die Rückmeldungen, sagt Brand, seien bislang durchweg positiv. Foto: Valerie Blass
Der Neckarsulmer Orthopäde und Unfallchirurg Boris Brand experimentiert seit rund drei Monaten mit der Online-Sprechstunde für ausgewählte Bestandspatienten. Die Rückmeldungen, sagt Brand, seien bislang durchweg positiv. Foto: Valerie Blass  Foto: Blass, Valerie

Ärztlichen Rat bekommen ohne weite Anfahrtswege und lange Wartezeiten in der Praxis: Das wünscht sich laut mehrerer Studien fast die Hälfte der Deutschen. Auch bei knapp 50 Prozent der Ärzte ist die Bereitschaft da, eine Online-Sprechstunde anzubieten.

Der Gesetzgeber hat die Bahn für die Telemedizin im April 2017 freigemacht. Ärzten ist es seitdem erlaubt, Bestandspatienten auch per Video zu untersuchen und zu beraten und das gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung abzurechnen. Die flächendeckende Umsetzung von Online-Konsultationen ist bislang dennoch gescheitert.

Nur ein Arzt im Land bietet bisher Online-Sprechstunden an

Das dürfte unter anderem an der geringen Vergütung für die Videosprechstunde liegen. 9,27 Euro kann der Arzt abrechnen, wenn es im Quartal noch keinen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt in dieser Sache gegeben hat. Der Technik-Zuschlag von 4,21 Euro ist gedeckelt auf 50 Mal pro Quartal und Arzt.

So kommt es, dass Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung im Land (KVBW) lediglich von einem einzigen Arzt in Baden-Württemberg − einem Allgemeinmediziner aus Stuttgart − berichten kann, der Online-Sprechstunden abrechnet.

Video-Test läuft auch bei einem Orthopäden in Neckarsulm

Ohne eine zusätzliche Vergütung dafür zu bekommen, experimentiert der Neckarsulmer Orthopäde und Unfallchirurg Boris Brand seit drei Monaten im Testbetrieb mit Videosprechstunden als Angebot für ausgewählte Bestandspatienten. "Ich halte das einfach für ein zeitgemäßes Vorgehen, das dem Wunsch vieler Patienten entgegenkommt, einen schnellen, direkten Kontakt zum Arzt zu haben", sagt der 53-Jährige, "außerdem macht mir das Spaß."

Das Prinzip ist Brand wohlbekannt, denn er betreut mehrere hochklassige Sporteams als Mannschaftsarzt. "Da läuft das auf einer informellen Basis schon lange so. Wenn einer meiner Sportler sich bei einem Auswärtsspiel verletzt, schickt er mir ein Foto oder ruft mich an, und wir überlegen dann, was zu tun ist."

Videosprechstunde kann "eine gigantische Zeitersparnis" sein

Im normalen Praxisbetrieb setzt Brand das System zum Beispiel bei Rückenpatienten ein. "Es macht Sinn, den Trainingsfortschritt auf diesem Weg zu besprechen. Wenn es darum geht, ob eine Behandlung anschlägt oder ob ein Patient ein Anschluss-Rezept braucht, muss er nicht unbedingt in meine Praxis kommen."

Mit der Videosprechstunde sei für Patienten "eine gigantische Zeitersparnis möglich". Denn wenn jemand um 9.10 Uhr einen Termin habe, sitze der Arzt auch exakt um diese Zeit am anderen Ende der Leitung. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die Patienten konzentriert von ihrer Situation berichten und es wenig Unsicherheit im Umgang mit der neuen Technologie gibt.

Orthopäde Brand: "Irgendjemand muss ja vorangehen, um die Technik zu testen"

Die Rückmeldungen seien bislang durchweg gut, erzählt der Orthopäde. Auch wenn er mit dem Testbetrieb noch kein Geld verdient, ist er überzeugt von den Möglichkeiten der Onlinesprechstunde: "Irgendjemand muss ja vorangehen, um die Technik zu testen und um Probleme zu erkennen und zu beheben." Klar ist für ihn aber auch: "Auf Dauer kann ich das nicht ohne Vergütung machen."

Die Landesärztekammer Baden-Württemberg geht in ihrem Modellprojekt, das im Frühjahr starten soll, noch einen Schritt weiter: Patienten in den Regionen Tuttlingen und Stuttgart sollen die Möglichkeit bekommen, sich über Video telefonischen Rat vom Arzt zu holen. Und zwar selbst wenn sie diesen noch nie zuvor persönlich gesehen haben.

Einer der Projektpartner ist die KVBW. Sprecher Kai Sonntag rechnet damit, dass im Rahmen von "Doc Direkt" mindestens 50 Mediziner − vorwiegend Allgemeinärzte − als Teleärzte tätig werden. Die Gespräche dazu liefen noch.

Modellversuch mit Telemedizin in Stuttgart ab April

Das System funktioniert so: Ein Patient ruft bei einer zentralen Nummer der KVBW in Stuttgart an und wird dort disponiert. Notfälle werden direkt an den Rettungsdienst weitergeleitet. Die Daten der übrigen Anrufer werden in ein Portal eingegeben. Der Computer der teilnehmenden Teleärzte sendet dann ein Signal über den Neuzugang, und einer der Ärzte löst ein Ticket und tritt mit dem Patienten in Kontakt.

Sollte doch ein persönlicher Praxisbesuch notwendig sein, werden die Patienten an Mediziner in ihrer jeweiligen Modellregion vermittelt. Der Projektstart ist für April geplant.

In der Schweiz funktioniert Telemedizin seit 17 Jahren

Kai Sonntag ist zuversichtlich, dass das System funktioniert. "Wir erfinden die Welt ja nicht neu." In der Schweiz sei mit Medgate schon seit 17 Jahren ein solches Angebot vorhanden, das nachweislich funktioniere. "Es ist klar, dass das in Deutschland auf alle Fälle auch kommen wird."

Dem Ärztemangel, gerade in ländlichen Region, sagt er, könne man damit aber nur bedingt begegnen. "Die Telemedizin wird sicher auch Arztpraxen entlasten können, aber trotzdem brauchen wir auf dem Land einen Arzt, zu dem die Leute gehen können." Um das bestehende Versorgungsniveau aufrechtzuerhalten, bedürfe es einfach mehr ärztlicher Kapazitäten.

Mehr zum Thema: In der Sprechstunde beim digitalen Arzt

Die Hoffnung bei der KVBW ist, dass es über die Online-Sprechstunde gelingt, Ärzte für ihren erlernten Beruf zurückzugewinnen − junge Mütter etwa, die in Teilzeit von zu Hause aus telemedizinisch arbeiten können. "Für Mediziner, die nicht in einer Praxis, aber doch zu einem gewissen Umfang in ihrem Beruf tätig sein wollen, ist das vielleicht ein attraktives Modell", so Sonntag.

Im Rahmen von Doc Direkt hat das Landes-Sozialministerium nach Auskunft von Sonntag auch das E-Rezept genehmigt. Das soll so ablaufen: Der Arzt gibt die Verordnung elektronisch in ein Portal ein, auf das der Apotheker dann nach entsprechender Authentifizierung zugreift. "Das würde das Projekt wesentlich unterstützen", sagt Sonntag. Die Notwendigkeit, Papierrezepte von Hand zu Hand zu geben, entfiele. Die Umsetzung werde allerdings erst nach dem Projektstart im April möglich sein, so Sonntag.

 

Hürden für die Telemedizin

Auf dem Weg zu einer flächendeckenden Umsetzung der Video-Sprechstunde sieht Bernd Salzer, Heilbronner Dermatologe und Vorsitzender des Spitzenverbands der Fachärzte im Land, noch einige Hürden. Die Diagnostik werde für den Arzt nicht leichter, wenn er den Patienten nicht mehr live vor sich habe und kein Gefühl für sein Gesamtbefinden entwickeln könne, sagt er.

Er fürchtet: "Die Fehlerquote wird höher, wenn es nicht eindeutige Sachen sind." Denn wenn man nur einen Ausschnitt einer Hautveränderung oder ein Foto davon sehe, müsse der Patient zusätzlich aufwendiger befragt und das besser dokumentiert werden. Dieser Mehraufwand, fordert Salzer, müsse besser vergütet werden. Die bislang abzurechnenden Pauschalen seien definitiv zu niedrig angesetzt.

Auch die Haftungsfrage ist für ihn ungeklärt. "Es gibt größere Unsicherheit durch die Ferndiagnose, aber die Haftung für das zusätzliche Risiko bleibt allein beim Arzt hängen." Da bedürfe es rasch einer gesetzlichen Klärung − etwa in Form eines Katalogs für per Videosprechstunde zu behandelnde Erkrankungen.

 

Ärzte-Versorgung wird schwieriger

Die Kassenärztliche Vereinigung warnt: In den kommenden Jahren könnten rund 500 Arztpraxen in Baden-Württemberg keine Nachfolger finden. Ein dramatischer Zustand, gerade für den ländlichen Raum. Eine Lösung ist so schnell nicht in Sicht. Viele Gegenmaßnahmen wirken erst in vielen Jahren. Das Problem dürfte also erst einmal nur größer werden.

Deshalb befasst sich unsere Redaktion ausführlich mit dem Thema Ärztemangel:

Unsere Übersicht "Stadt, Land, Krank" zeigt, wie stark das Gefälle zwischen Stadt und Land ist bei der Versorgung von Ärzten.

Wir haben Zweiflingen besucht, die einzige Gemeinde in der Region, die überhaupt keinen Arzt mehr hat.

Wir erklären, wie verschiedene Gemeinden in der Region Prämien für neue Ärzte bezahlen, weil der Mangel so groß ist.

Besonders spürbar ist der Mangel für Eltern. Kinder- und Jugendärzte müssen vielerorts schon Patienten ablehnen.

Mit einer interaktiven Karte können Sie testen, wie weit entfernt Sie von den nächsten Ärzten wohnen.

Wichtig, wenn die Auswahl an Ärzten abnimmt: Wann dürfen Ärzte überhaupt Patienten ablehnen?

 

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