Heilbronn
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

In der Sprechstunde beim digitalen Arzt

   | 
Lesezeit  4 Min
Erfolgreich kopiert!

Patienten sollen sich künftig medizinische Hilfe holen können, ohne zuvor im Wartezimmer gesessen zu sein.

Von Valerie Blass

 

 

Patienten im Land sollen sich künftig online ärztlich behandeln lassen können - und zwar ohne, dass der Mediziner sie je zuvor persönlich gesehen hat. Die Landesärztekammer (LÄK) will Mitte 2017 entsprechende Modellprojekte starten. Kommt dieses Angebot tatsächlich zustande, so wird damit eine völlig neue Zeitrechnung im deutschen Gesundheitswesen eingeleitet.

  • Fernbehandlung: In der ärztlichen Berufsordnung ist bislang geregelt, dass Ärzte individuelle Behandlungen "nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen" dürfen. Der Arzt muss den Patienten also mindestens einmal persönlich gesehen haben, um ihn danach - zum Beispiel telefonisch - weiterberaten zu können. Die Landesärztekammer Baden-Württemberg (LÄK) hat diese Regelung vor einigen Monaten gelockert. Ärzte im Südwesten dürfen Patienten nun auch telemedizinisch behandeln, ohne dass sich beide zuvor begegnet sind - im Rahmen der Modellprojekte. Es sei kein Zufall, dass Baden-Württemberg in dieser Sache vorangeht, sagt LÄK-Sprecher Oliver Erens. "Wir haben eine sehr breite Grenze zur Schweiz. Einige unserer Ärzte fahren jeden Morgen über die Grenze, um dort mit Patienten zu telefonieren. Sie fragen sich, warum sie das nicht auch zu Hause machen können." Seine Kammer sei jedenfalls "die erste und einzige in der Republik", die die Türe aufgemacht habe. "Es gibt einige, die mit Neid auf uns schauen."

  • Schweizer Vorbild: Die Firma Medgate in der Schweiz bietet seit 16 Jahren medizinische Beratung und Behandlung via Telefon. Nach eigenen Angaben ist Medgate das größte ärztlich betriebene telemedizinische Zentrum Europas mit bis zu 5000 Telekonsultationen pro Tag und rund sechs Millionen seit der Gründung 2000. Der sich abzeichnende Ärztemangel in Deutschland - gerade in ländlichen Regionen - könne mit solchen Modellen ausgeglichen werden, meinen Experten. Johannes Fechner, Vize-Vorstandchschef der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg (KV), sagt: "Wir werden die Versorgung nur stabilisieren, wenn wir mehr ärztliche Kapazitäten bekommen." Seine Hoffnung ist, dass ausgebildete Ärzte, die derzeit nicht in Praxen arbeiten, doch wieder den Weg in den Beruf finden, wenn sie von zu Hause aus arbeiten können.

  • Modellprojekt: Die KV will deshalb zwei Modellprojekte zu Online-Sprechstunden organisieren - in einer städtisch geprägten und einer eher ländlichen Region. Welche das sein werden, kann KV-Sprecher Kai Sonntag noch nicht sagen. "Wir müssen zunächst mit den Ärzten vor Ort sprechen." Allerdings steht die KV im Wettbewerb mit anderen Anbietern um den Zuschlag für das Projekt. Die Auswahl treffe die Landesärztekammer (LÄK) als Vertretung aller 64 000 Ärzte im Land, sagt Oliver Erens. "Die KV kommt als ein Anbieter infrage, es gibt aber durchaus noch andere, kommerzielle Interessenten, die wir nicht außen vor lassen können."

  • Planung: So sieht der KV-Plan aus: Wer ärztliche Hilfe benötigt, ruft im bereits existierenden Medcall-Center der KV in Stuttgart an. Das medizinische Personal dort teilt die Anrufer in zwei Gruppen ein: Notfälle werden direkt an die Rettungsleitstellen weitervermittelt. Alle anderen Fälle werden in ein Online-Portal eingestellt, auf das teilnehmende Ärzte elektronisch Zugriff haben. Diese bekommen über den PC in ihren Praxen eine Meldung über den Neuzugang. Im Idealfall löst der passende Arzt dann ein Ticket über die Behandlung und meldet sich innerhalb der nächsten zweieinhalb Stunden beim Anrufer. Hürden, die es in der Schweiz nicht gibt, müssen in Deutschland allerdings noch genommen werden. Etwa bei ärztlichen Verordnungen, sagt KV-Sprecher Sonntag. Diese werden im Nachbarland online ausgestellt und in der Regel direkt an eine Versandapotheke geschickt. Von dort bekommt der Patient das Medikament nach Hause geliefert. In Deutschland ist das bislang nicht möglich. Und: Nicht alle Patienten können online behandelt werden. Manchmal sei ein persönlicher Kontakt mit dem Arzt nötig. "Wir suchen nach einer Lösung, wie wir in solchen Fällen Termine mit niedergelassenen Ärzten machen können." Fechner sagt, die KV müsse "noch dicke Bretter bohren", um diese offenen Fragen zu klären. "Unser Gesundheitswesen hat für diese Art der Behandlung keine Prozesse."

  • Überfällig: Andreas Vogt, Chef der Techniker Krankenkasse im Land, lobt das Projekt. Er sagt aber auch, das Gesundheitswesen insgesamt und Baden-Württemberg im Speziellen seien eher hinterher, was digitale Prozesse angehe. "Wir sind sehr stark in der Vergangenheit verhaftet." Seine Forderung: "Die Landespolitik muss die telemedizinische Vernetzung stärker nach vorne treiben als bisher." Deshalb, so Vogts Vorschlag, sollten zehn Prozent der Mittel, die derzeit in die Krankenhausförderung fließen, künftig für die Förderung der telemedizinischen Vernetzung reserviert werden.

  • Landespolitik: Zu diesem Vorschlag will sich ein Sprecher von Gesundheitsminister Manne Lucha (SPD) nicht äußern. Er belässt es bei allgemeinen Aussagen und spricht von "großen Chancen der Telemedizin". Allerdings müsse man zunächst in einer Projektgruppe mit allen Beteiligten an einen Tisch. Bei der Landesgesundheitskonferenz 2017 solle es dann "einen Zwischenbericht geben".

  • Handlungsdruck: Gleichzeitig gibt es Handlungsdruck in vielen Bereichen. Die Notaufnahmen von Krankenhäusern werden überschwemmt von Patienten, die dort nicht hingehören. Die KV hofft, das durch Telekonsultationen ändern zu können. Immer mehr kleine Krankenhäuser auf dem Land schließen - auch in unserer Region - und auch bei niedergelassenen Ärzten gibt es Nachwuchsprobleme. 40 Prozent der Anrufe würden in der Schweiz am Telefon abgewickelt, ohne dass der Patient in eine Praxis müsse, sagt Fechner. Er sagt auch: "Ich kann heute noch keine Prognose dazu abgeben, wann das flächendeckend angeboten werden könnte."

 

Finanzierung

Ab dem 1. Juli übernehmen die Krankenkassen die Kosten einer Videosprechstunde. Mit dem E-Health-Gesetz wird dieses Angebot Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung − der Patient muss es aber nicht wahrnehmen. Das Gesetz greift allerdings nur, wenn der Arzt den Patienten zuvor mindestens einmal gesehen hat. Für das Modellprojekt der Landesärztkammer Baden-Württemberg muss noch eine Zusatz-Vereinbarung zwischen den Projektpartnern geschlossen werden. Der Plan sieht vor, dass die teilnehmenden Ärzte ein Honor erhalten, das nicht aus dem regulären Topf der Krankenkassen stammt. Patienten können Leistungen aber ganz normal über die Krankenkasse-Karte abrechnen lassen. 

 

 

 

 

Nach oben  Nach oben