Wenn Eltern keine Kinderärzte finden
Kinderärzte lehnen zunehmend Kinder ab, wenn sie nicht aus der eigenen Stadt kommen. Die Wartezimmer sind in vielen Gegenden chronisch voll. Eltern erleben ein System nahe am Zusammenbruch.

Wenn Maren Bott Telefondienst hat, ist Großkampftag. Pünktlich um 8.30 Uhr schaltet die Arzthelferin in der Kinderarztpraxis Monn in Künzelsau das Telefon an – und den Anrufbeantworter ab. Nach wenigen Sekunden beginnt es zu klingeln. Und hört nicht mehr auf. „Ich gehe hin und lege auf, gehe hin und lege auf“, sagt Bott. „Dass es mal nicht klingelt, gibt es eigentlich nur im Sommer.“
Der Dienst ist nicht der beliebteste unter den Mitarbeiterinnen der Praxis. Es ist anstrengend, den ganzen Tag Eltern abzuweisen und zu vertrösten. „Wir versuchen unser Bestes“, sagt Bott. „Aber viele Eltern sind nicht sehr erfreut, wenn sie morgens um 9 Uhr anrufen und der Terminkalender für den ganzen Tag schon voll ist.“
„Wenn ich noch mehr Kinder nehmen würde, müsste ich Abfertigungsmedizin machen“
In anderen Arztpraxen dürfte der Telefondienst ähnlich unbeliebt sein. Kinder- und Jugendärzte in der Region können sich teilweise fast nicht retten vor Arbeit, ihre Praxen sind chronisch voll. Eltern wissen kaum noch, wie sie überhaupt einen Termin bekommen sollen für ihre kranken Kinder. In manchen Gegenden ist es schwer, überhaupt einen Kinderarzt zu bekommen.
Marcel Monn bedauert das. Er ist seit gut 15 Jahren Kinderarzt in Künzelsau. Am liebsten würde er alle Kinder aufnehmen. Aber schon jetzt arbeitet er kaum einen Tag unter 14 Stunden. „Wenn ich noch mehr Kinder nehmen würde, müsste ich Abfertigungsmedizin machen. Das kann ich nicht“, sagt er. Seine Praxis nimmt deshalb als neue Patienten nur noch Kinder aus Künzelsau auf. Und Kinder, deren Geschwister schon in der Praxis angemeldet sind.
Eltern erleben ein System nahe am Zusammenbruch
Seit er 2003 die Praxis in der Morsbacher Straße übernommen hat, hat die Zahl der Patienten um rund 80 Prozent zugenommen, sagt er. Das liegt unter anderem daran, dass Eltern mehr Kinder bekommen – und ältere Ärzte keine Nachfolger finden.
2015 kamen zum ersten Mal seit 2001 wieder mehr als 100.000 Babys in Baden-Württemberg zur Welt. Tendenz steigend. Einige Kinderärzte sprechen schon wieder von geburtenstarken Jahrgängen, das Statistische Landesamt nennt es einen „kleinen Babyboom“. Dazu kommen Kinder von Zuwanderern. Die Folge: zu wenig Ärzte und überfüllte Wartezimmer.
Die meisten Eltern haben dafür zumindest Verständnis. „Ein Arzt kann ja auch nur soviel machen. Er ist ja auch nur ein Mensch“, sagt Michaela Ohr aus dem Ingelfinger Ortsteil Weldingsfelden. Trotzdem hat sie das Gefühl, dass die Versorgung auf dem Land fast nicht mehr klappt. Das System ist überfordert. Für viele Eltern rund um Künzelsau fühlt es sich so an, als wäre es nahe am Zusammenbruch.
70 Kilometer fahren für jede einzelne Impfung
Eigentlich wollte Michaela Ohr mit ihrem heute drei Monate alten Sohn zur Künzelsauer Praxis Monn gehen. Doch als das Kind auf der Welt war, hieß es: keine Plätze. Sie wurde mit ihrem Sohn abgelehnt. Nicht nur in Künzelsau, auch in drei weiteren Praxen. Jetzt fährt sie nach Öhringen zum Kinderarzt. „45 Minuten einfache Strecke“, sagt Ohr. „Das ist schon heftig, dass es bei uns auf dem Land fast keine Versorgung mehr gibt.“
Wer rund um Künzelsau mit Kind lebt, kennt das Problem. Einige Eltern haben sich darauf eingestellt, bis zu 25 Mal anzurufen, um endlich beim Arzt durchzukommen. Andere gehen mit ihren Kindern direkt zu einem Hausarzt statt zum Kinderarzt.
Die nächsten Kinderärzte befinden sich in Markelsheim, Öhringen oder Satteldorf. Das sind aus Ingelfingen Fahrstrecken von etwa 28, 33 oder 44 Kilometern. Und auch diese Praxen lehnen inzwischen Kinder ab. „Da muss man sich nicht wundern, wenn die Impfquoten so niedrig sind, wenn man 70 Kilometer für einen Pieks fahren muss“, sagt eine Mutter.
Viele Eltern finden die Lage unzumutbar

Wenn ein Arzt Urlaub hat, wird es noch schwieriger. Im vergangenen Jahr musste Janine Dietrich (Name geändert) mit krankem Kind von Schöntal zu einer Vertretungs-Praxis nach Michelfeld fahren – 45 Kilometer einfache Strecke. Dort galt dann: Sie können gerne kommen, aber sie müssen mit längeren Wartezeiten rechnen. Dietrich sagt: „Das ist eine absolute Unzumutbarkeit.“
Damit hat sie sozusagen offiziell recht. „Allgemein werden Wege bis zu 25 Kilometern als nicht unzumutbar angesehen“, schreibt das Sozialministerium als Antwort auf eine kleine Anfrage im Landtag im Jahr 2015. Für viele Eltern in Hohenlohe ist diese Grenze längst überschritten.
Je nach Gemeinde kann das allerdings sehr unterschiedlich sein – Ärzte sind nicht gleichmäßig verteilt. Wer in der Nähe einer Praxis wohnt, hat Glück. Fahrten von mindestens 20 Kilometern zum Kinderarzt sind aber in vielen Gegenden normal. Das berichten Eltern aus allen Ecken der Region, egal ob, Hohenlohe, Zabergäu oder Kraichgau. Immer mehr Praxen nehmen keine neuen Patienten an. Auswahl gibt es kaum noch.
Ärzte arbeiten heute viel intensiver an der Vorbeugung
Teil des Problems ist: Patienten gehen heute häufiger zum Kinderarzt. Es gibt neue Standard-Untersuchungen, neue Impfungen, Ärzte beraten junge Eltern intensiver. Kinderärzte geben Infobroschüren an Eltern aus zu Themen wie ADHS, Leseschwächen oder Übergewicht. Bei U-Untersuchungen sprechen die Ärzte mit Eltern über Medienkonsum oder über das Freizeitverhalten ihrer Kinder.
Die neuen Untersuchungen findet Andreas Baumann sinnvoll. Der Kinder- und Jugendarzt führt zusammen mit Robert Wagner eine Gemeinschafts-Praxis in Öhringen. „Es ist nicht mehr so, dass man ein Kind abhört und sagt: ‚Es ist gesund‘“, sagt Baumann.
Kinderärzte brauchen Zeit für Prävention als früher
„Das ist alles viel zeitaufwendiger als früher“, sagt Baumann. In seiner Woche verbringe er inzwischen mehr als die Hälfte mit Prävention. Und damit wird die Zeit für andere Untersuchungen eben knapper.
Die Öhringer Praxis Baumann und Wagner geht das Problem mit klarer Organisation an. „Wir sind nicht so drauf, dass wir jammern“, sagt Robert Wagner. „Man muss konsequent sein. Wenn Leute zum Beispiel in der Sprechstunde erzählen wollen, muss man sie bremsen.“ So behalten sie volle Wartezimmer gut im Griff.
Heilbronner Ärzte nehmen nur noch Heilbronner Kinder auf

In Heilbronn ist das oft kaum möglich. Die Lage ist angespannt – obwohl es in der Stadt immerhin noch sieben Kinderarzt-Praxen gibt. „Wir haben zunehmend Probleme, alle Kinder aus der Stadt zu versorgen“, sagt Hans Ulrich Stechele, der eine Praxis im Heilbronner Käthchenhof betreibt. Jeden Tag rufen fünf bis zehn neue Eltern in seiner Praxis an, die einen Arzt für ihren Nachwuchs suchen, schätzt er.
„Wir haben den Anspruch, jedem Säugling aus Heilbronn einen Platz zu geben“, sagt er. Auch wenn das manchmal erst nach einer Absprache unter den Heilbronner Kinderärzten klappt. Bei Familien von außerhalb lehnt Stecheles Praxis meistens ab – wie auch andere Kinderärzte in Heilbronn.
25 Prozent aller Kinderärzte sind über 60 Jahre alt – Nachwuchs fehlt
Das Problem wird in den kommenden Jahren kaum besser. Von 913 Kinder- und Jugendärzten im Land ist jeder vierte älter als 60 Jahre. Gut 10 Prozent sind sogar älter als 65. Es werden also in den kommenden Jahren weitere Praxen schließen. Und nicht alle werden Nachfolger finden.
Denn es gibt schlicht viel zu wenig Arzt-Nachwuchs. Nicht nur auf dem Land. „Es ist nur eine Wunschvorstellung der Politiker, dass es ein Umverteilungsproblem gibt“, sagt Kinderarzt Stechele. Denn auch in Stuttgart oder München gebe es viel zu wenig Kinderärzte.
KV fordert mehr Studienplätze für Ärzte
Immerhin wollen alle Verantwortlichen die Probleme angehen. Lange durften Kinderärzte keine neuen Praxen eröffnen. Die Basis dafür ist die Bedarfsplanung, die viele Experten inzwischen für überholt halten. Wenn es nach den Zahlen geht, wäre Heilbronn zum Beispiel mit rund 125 Prozent weit überversorgt. Deshalb ist es grundsätzlich schwer, neue Praxen zu gründen.
Solche Beschränkungen könne man auf Antrag inzwischen oft aufheben, sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KVBW). Sie muss die flächendeckende Versorgung mit Ärzten sicherstellen. Auch wenn Kinderärzte neue Assistenten einstellen wollen, unterstützt die KVBW das. Doch wo es keine Ärzte gibt, kann man auch keine einstellen. "Wir werden in Deutschland mehr Ärzte ausbilden müssen", sagt Sonntag.
Für Kinder- und Jugendärzte hat die KVBW inzwischen erste Förder- und Ausbildungsprogramme gestartet. Es gibt Programme für Ärzte, die zurzeit nicht in der Versorgung arbeiten. Und die KVBW setzt sich dafür ein, dass es mehr Studienplätze gibt. Doch bis das wirkt und junge Studienanfänger einen Abschluss und eine Facharzt-Ausbildung beenden, wird es mindestens 15 Jahre dauern.
Der nächste Mitarbeiter hat gleich für Sie Zeit, bitte haben Sie Geduld
Ob die fertig ausgebildeten Ärzte dann eigene Praxen eröffnen wollen, weiß niemand. 14-Stunden-Tage will heute niemand mehr arbeiten. Viele Frauen und auch immer mehr Männer arbeiten in Teilzeit. Die Folge: „Ärzte, die neu ins System kommen, versorgen im Schnitt weniger Patienten als die, die aufhören“, sagt Kai Sonntag. Auch das trägt zur aktuellen Ärzte-Knappheit bei.
Für die Eltern, die dringend einen Arzt suchen, ist das alles kein großer Trost. Für sie gibt es wohl so schnell keine echte Lösung. Außer Geduld, wenn sie auch nach dem zehnten Versuch am Telefon immer noch nicht bei ihrer Praxis durchkommen.
Ärzte-Versorgung wird schwieriger
Die Kassenärztliche Vereinigung warnt: In den kommenden Jahren könnten rund 500 Arztpraxen in Baden-Württemberg keine Nachfolger finden. Ein dramatischer Zustand, gerade für den ländlichen Raum. Eine Lösung ist so schnell nicht in Sicht. Viele Gegenmaßnahmen wirken erst in vielen Jahren. Das Problem dürfte also erst einmal nur größer werden.
Deshalb befasst sich unsere Redaktion ausführlich mit dem Thema Ärztemangel:
Wir haben Zweiflingen besucht, die einzige Gemeinde in der Region, die überhaupt keinen Arzt mehr hat.
Wir erklären, wie verschiedene Gemeinden in der Region Prämien für neue Ärzte bezahlen, weil der Mangel so groß ist.
Besonders spürbar ist der Mangel für Eltern. Kinder- und Jugendärzte müssen vielerorts schon Patienten ablehnen.
Außerdem haben wir einen Orthopäden in Neckarsulm besucht. Er berät einige seiner Patienten inzwischen vom Computer aus. Kann die sogenannte Telemedizin eine Lösung für Ärztemangel auf dem Land sein?
Dort können Sie mit einer interaktiven Karte auch selbst testen, wie weit entfernt Sie von den nächsten Ärzten wohnen.
Wichtig, wenn die Auswahl an Ärzten abnimmt: Wann dürfen Ärzte überhaupt Patienten ablehnen?
Kommentare öffnen
Stimme.de
Kommentare