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Hoher Erschöpfungsgrad, lange Warteliste: Bedarf in der Kinder- und Jugendpsychiatrie steigt

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Die Leitende Oberärztin Dr. Birgit Stock beobachtet steigende Fallzahlen bei psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen. Der Umbau der psychosomatischen Station im SLK-Klinikum soll allerdings nicht nur den Patienten zugutekommen.

Ein junges Mädchen steht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Asklepios-Klinik in Hamburg.
Ein junges Mädchen steht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Asklepios-Klinik in Hamburg.  Foto: picture alliance/Axel Heimken/dpa/Symbolbild

Eigentlich, sagt Oberärztin Dr. Birgit Stock, sei ihre Station immer ausgelastet. Seit zwölf Jahren leitet die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie die psychosomatische Station in der SLK-Kinderklink. In dieser Zeit habe die Zahl der Fälle deutlich zugenommen, sagt die 54-Jährige im Interview: "Wir sehen viel Not."

Ein Umbau sei dringend nötig - nicht nur, um für Patienten ein besseres Umfeld zu schaffen, sondern auch um die Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeiter zu verbessern.

Laut Studien hat jedes vierte Kind psychische Problemen. Woran liegt das?

Dr. Birgit Stock: Es war schon vor Corona schwierig, aber die Zahl der psychischen Erkrankungen hat nochmal zugenommen. Wir haben alle unser Corona-Paket zu tragen, aber die steigenden Fallzahlen allein mit der Pandemie zu erklären, greift zu kurz. Es gibt vielschichtige Gründe und es hat nichts mit dem sozialen Hintergrund zu tun.


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Wen behandeln Sie?

Stock: Unter anderem Kinder und Jugendliche mit Angst- und Essstörungen, Depressionen und suizidgefährdete Patienten. Viele Kinder leiden auch unter einer diffusen Schmerzsymptomatik.


Sie arbeiten familienzentriert. Was bedeutet das?

Stock: Wenn das Kind unter einer psychischen Krankheit leidet, ist das für die Familie eine große Belastung, weil Eltern schnell die Schuldfrage stellen. Aber es geht nicht um Schuld, wir wollen Familien entlasten. Wir kommunizieren sehr viel, verbal und nonverbal, mit Patienten und ihren Familien, und holen sie da ab, wo sie stehen. Wir fragen immer: Was braucht ihr, damit es zu Hause funktioniert? Wir erarbeiten das gemeinsam und bieten Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn wir den Menschen ganzheitlich sehen, haben wir eine bessere Medizin.


Tun Politik und Gesellschaft zu wenig?

Stock: Ich habe den Eindruck, dass die Gesellschaft den Bedarf wahrnimmt. Aber die Versorgung für Kinder in der Psychiatrie und Psychosomatik ist schlecht. Bei der Kennziffer, aus der die Bettenzahl berechnet wird, sind wir in Baden-Württemberg unter den Schlusslichtern in Deutschland.


Die Stiftung "Große Hilfe für kleine Helden" will sich mit einem Leuchtturmprojekt engagieren und hat einen Spendenaufruf für den Umbau der Psychosomatik gemacht. Der richtige Weg?

Stock: Es ist fantastisch, das wir die Stiftung haben, sie unterstützt uns seit Jahren. Ich freue mich sehr über das aktuelle Projekt, denn wenn wir Kinder jetzt nicht gut versorgen, wird daraus langfristiger Schaden entstehen. Der Aufruf an die Spender dient dazu, die Menschen noch stärker zu sensibilisieren. Der Behandlungsbedarf wächst, das ist Fakt. Gleichzeitig wollen wir für unsere Mitarbeiter eine Arbeitsumgebung schaffen, in der sie sich wohlfühlen. In unserer Arbeit ist ein hohes Maß an persönlichem Einsatz gefragt, da ist eine gute Atmosphäre wichtig. Davon profitieren Patienten und Personal.


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Wie ist Ihre Abteilung aufgestellt?

Stock: Wir sind ein multiprofessionelles Team mit 22 Mitarbeitern in der Psychosomatik. Außerdem gibt es Unterstützung von anderen Abteilungen im Haus. Diese Vernetzung zeichnet uns aus, weil wir so auch sehr komplexen Fälle betreuen können. Aber auch wir leiden unter dem Fachkräftemangel, und ich wünsche mir mehr Kollegen.


Sie waren von Anfang an in die Pläne für einen Umbau eingebunden. Was war Ihnen wichtig?

Stock: Der größte Wunsch unseres Teams war die Küche. Die Mahlzeiten sind Teil der Therapie. Deshalb soll eine große Wohn-Essküche entstehen, in der gemeinsam gekocht und gegessen wird. Das eröffnet uns neue therapeutische Möglichkeiten. Außerdem wollen wir die Patientenzimmer so gestalten, dass die Kinder mehr Privatsphäre haben, zum Beispiel einen eigenen Tisch oder Platz für Fotos und Bilder.


Welche Patienten kommen auf Ihre Station?

Stock: Wir behandeln Kinder- und Jugendliche im Altern von 0 bis 18 Jahren. Die Patienten sind in einem schlechten psychischen Zustand. Der Erschöpfungsgrad, auch bei den Eltern, ist sehr hoch. Bei rein diagnostischen Aufenthalten sind Kinder und Jugendliche zehn bis 14 Tage auf Station. Wir haben aber auch Patienten, die monatelang hier liegen. Dann ist das Krankenhaus wie ein zweites Zuhause.


Warum ist Ihnen der Umbau so wichtig?

Stock: Für die Patienten ist es ganz entscheidend, gut bei uns anzukommen. Sie brauchen eine gute Atmosphäre, um sich auf die Therapie einzulassen. Deswegen ist ein Umfeld, in dem sich die Patienten wohlfühlen können, wichtig. Sie genesen nicht nur durch Medikamente.


Gibt es eine Warteliste?

Stock: Ja, die wird bei planbaren Aufnahmen immer länger. Im Moment liegen wir bei acht bis zwölf Wochen. Aber wir haben aktuell auch sehr viele Notfälle. Suizidversuche haben seit dem vergangenen Sommer deutlich zugenommen, und die betroffenen Kinder sind immer jünger. Für diese Patienten ist immer Platz. Da kooperieren wir eng mit den Kollegen in Weinsberg.


Brauchen Sie zusätzliche Betten?

Stock: Wir werden nach dem Umbau 14 feste Plätze haben, darunter ein Eltern-Kind-Zimmer. Aber wir wollen nicht mehr Betten, um Kinder länger zu behandeln. Wir wollen gut und schnell arbeiten und haben dabei immer im Auge, wann das Kind wieder nach Hause kann. Unser Ziel ist so wenig wie möglich stationäre Zeit, wir versuchen, die Kinder so schnell wie möglich wieder zurück in den Alltag zu Familien, Freunden und in die Schule zu bringen. Dafür vernetzen wir Familien mit Anschluss-Angeboten. Wir bieten aber auch selbst ambulante Nachsorge an.


Wenn Sie einen Ausblick wagen - erwarten Sie, dass die Fallzahlen wieder sinken, wenn die Pandemiefolgen überstanden sind?

Stock: Ich glaube nicht, dass es abebbt. Es gibt viele Belastungsfaktoren neben Corona. Krieg, Klimawandel - all das ängstigt Kinder. Wir müssen uns deshalb dringend mit Prophylaxe auseinandersetzen, mit Familienunterstützung und mit Bildung. In der Psychiatrie und Psychosomatik werden wir sicher in Zukunft nicht weniger Betten brauchen, wir brauchen aber vor allem mehr Behandlungsmöglichkeiten.

 

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