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Der eine OB in Neckarsulm, der andere Verhaltensforscher: Die Brüder Hertwig über Klimaschutz und Kommunalpolitik

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Der Neckarsulmer OB Steffen Hertwig und sein Bruder, Verhaltensforscher Ralph Hertwig, sprechen im Doppelinterview über die Lücke zwischen Ambitionen und Taten beim Klimaschutz.

Die Wehrbrücke ist ein Nadelöhr für den Verkehr aus und nach Neckarsulm. Foto: Archiv
Die Wehrbrücke ist ein Nadelöhr für den Verkehr aus und nach Neckarsulm. Foto: Archiv  Foto: Berger, Mario

Zwei Brüder, ein Thema, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven: Ralph Hertwig beschäftigt sich als Verhaltensforscher mit der Frage, warum uns klimafreundliches Verhalten so schwerfällt. Steffen Hertwig sagt als Oberbürgermeister von Neckarsulm, seit etwa zwei Jahren sei Klimaschutz "das Megathema" im Gemeinderat der Stadt.

Den seit vielen Jahren geplanten B27-Anschluss kippte das Gremium, unter anderem mit dem Hinweis auf den nicht mehr zeitgemäßen Flächenverbrauch und bekam dafür viel öffentliche Aufmerksamkeit. Im Stimme-Interview sprechen die beiden über ihre Sicht auf die Klimakrise und nötige politische Konsequenzen.

Klimaschutz ist das große Thema unserer Zeit. Dennoch hat man den Eindruck, dass es bei Entscheidungen auf kommunaler Ebene selten mitgedacht wird. Oder?

Steffen Hertwig: In der Vergangenheit wurde Klimaschutz eher beiläufig mitgedacht, je nach politischer Couleur. Das hat sich in meinen Augen völlig geändert. Bei uns im Gemeinderat ist der Klimaschutz inzwischen das Megathema, über alle Fraktionen hinweg. Und wir reagieren, zum Beispiel mit unserem Klimaschutzkonzept, das wir 2020 beschlossen haben. Die konkreten Maßnahmen werden demnächst vorgestellt.

 


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Den Beschluss vom vergangenen Sommer, den B27-Anschluss zu kippen, haben Sie auch mit Klimaschutz begründet. Wie blicken Sie heute auf die Entscheidung?

Steffen Hertwig: Für diese Entscheidung sprachen viele Argumente, zum Beispiel die Frage, ob wir wirklich das Signal senden wollen, mit einem so groß dimensionierten Straßenbauwerk den Verkehr flüssiger zu machen – oder das veränderte Pendler-Verhalten in der Pandemie. Von der Öffentlichkeit in Neckarsulm wurde die Entscheidung in meiner Wahrnehmung überwiegend begrüßt. Einige umliegende Kommunen und Firmen sehen das nicht so, sie haben ein anderes Interesse, nämlich schnell von A nach B zu kommen.


Ruft Ihr Bruder in Berlin an, wenn solche schwierigen Entscheidungen anstehen und fragt, wie er sie am besten verpackt?

Ralph Hertwig: (beide lachen) Wir telefonieren viel und es interessiert mich sehr, mit welchen Themen mein Bruder sich auseinandersetzt. Als er in die Kommunalpolitik eingestiegen ist, fand ich das sehr spannend. Ich bemühe mich aber, ihm keine Ratschläge zu geben.

 


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Gab es in Neckarsulm einen speziellen Punkt, an dem Sie entschieden haben, dass das Thema mehr Gewicht bekommen muss?

Steffen Hertwig: Woran ich mich erinnere: Im OB-Wahlkampf vor fünfeinhalb Jahren war Klimaschutz noch kein Thema, da hat sich danach sehr viel getan. Ich glaube, das ist das Ergebnis vielfältiger äußerer Einflüsse, aber auch ganz vieler engagierter Diskussionen in unserem Gemeinderat – und die kommen nicht nur aus den Reihen der Grünen. Dabei ist auch meine persönliche Überzeugung gewachsen.


Warum fällt es uns Menschen so schwer, unser Wissen um die Notwendigkeit für mehr Klimaschutz in die Tat umzusetzen?

Ralph Hertwig: Da kommen viele Faktoren zusammen. Wir müssten kurzfristige Opfer für einen langfristigen Nutzen bringen, den möglicherweise erst nachfolgende Generationen erleben. Das fällt uns schwer, weil uns die Evolution so gebaut hat, dass wir uns Sorgen über die nächste Ernte oder eine unmittelbare Bedrohung machen, aber nicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte voraussehen. Verschärft wird dieses Dilemma durch Anreize in unserem politischen System: Politiker haben das relativ kurzfristige Ziel, wiedergewählt zu werden, was sich schlecht mit langfristigen Plänen verträgt, insbesondere wenn diese unpopuläre Konsequenzen für die Gegenwart bedeuten. Und es geht um Gerechtigkeitsfragen: Bestimmte Teile der Gesellschaft werden unter Klimaschutzmaßnahmen mehr leiden als andere. Es braucht Zeit und Ausdauer, da einen Interessensausgleich zu organisieren. Außerdem ist die Bedrohung durch den Klimawandel für viele in Deutschland lange abstrakt und fern gewesen, das hat sich erst durch die extremen Wetterereignisse verändert.


Ist es durch diese konkrete Erfahrung einfacher geworden, das Thema kommunalpolitisch zu verhandeln?

Steffen Hertwig: Nein, das ist nach wie vor ein schwieriger Balanceakt für Verwaltung und Gemeinderat. In Neckarsulm gibt es viele unterschiedliche Interessen: eine extreme Wirtschaftskraft und große Nachfrage nach Arbeitskräften einerseits – andererseits Flächenverbrauch und kaum noch Fläche für Wohnraum. Wir haben zum Beispiel keine Möglichkeit mehr, Baugebiete auszuweisen, ohne Naturraum für die Bevölkerung massiv einzuschränken. Deshalb haben wir uns für Geschosswohnungsbau und Nachverdichtung in der Innenstadt entschieden. Das ist aber ein sehr schwieriges Unterfangen, für das viele Bürger keinerlei Verständnis haben. Ich weiß auch nicht, ob wir unsere Linie durchhalten werden, wenn etwa in Heilbronn der KI-Park kommt und damit der Bedarf nach Wohnraum weiter wächst.

 

Digitales Gespräch zwischen Neckarsulm (Steffen Hertwig, oben), Berlin (Ralph Hertwig) und Heilbronn (Valerie Blass). Screenshot:
Digitales Gespräch zwischen Neckarsulm (Steffen Hertwig, oben), Berlin (Ralph Hertwig) und Heilbronn (Valerie Blass). Screenshot:  Foto: Blass, Valerie

Wie wichtig ist politische Kommunikation für die Akzeptanz von Klimaschutz-Maßnahmen?

Ralph Hertwig: Der Staat kommuniziert auf vielen Ebenen, nicht nur durch die Vermittlung von Inhalten, sondern auch durch Steuern, Verbote oder Subventionen. Problematisch wird es, wenn solche Signale in Widerspruch stehen, das müssen sich politisch Handelnde klarmachen. Faszinierend finde ich, dass eine kleine Kommune wie Neckarsulm ganz ähnliche Probleme hat wie Berlin: Umgang mit Ressourcen, Wassermanagement, Müllvermeidung, Mobilität und Wohnen. In Deutschland wird aber im Unterschied zu anderen europäischen Ländern kaum verhaltenswissenschaftliche Expertise genutzt, um Verhalten in diesen Bereichen konstruktiv zu beeinflussen. Wir scheinen hier alles legalistisch regeln zu wollen. Warum nicht auch andere Wissenschaften dazu nehmen? Da könnte Neckarsulm Vorreiter sein, wenn ich das an dieser Stelle sagen darf.


Verhaltensforschung für Neckarsulm. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?

Steffen Hertwig: (lacht) Ich finde das hochspannend, und ich werde mir das anschauen. Aber es ist natürlich auch eine Finanzierungsfrage.

Ralph Hertwig: Wenn ich da einhaken darf. Die Verhaltenswissenschaften müssen zeigen, dass sich ihr Einsatz rechnet. Kluges, wissenschaftsbasiertes Verhaltensmanagement sollte einer Kommune Geld sparen. Steffen Hertwig: Da denke ich jetzt spontan an unser Müllproblem – was es uns kostet, wenn unsere Bauhof-Mitarbeiter quasi täglich unterwegs sind, um den Müll anderer Menschen wegzuräumen. Da könnte man vielleicht etwas positiv beeinflussen.


Wie schwierig ist es in der Audi-Stadt Neckarsulm, das Thema Mobilität neu zu denken?

Steffen Hertwig: Ich glaube, das eine schließt das andere keinesfalls aus. Die Automobilhersteller handeln verstärkt, um zum Anbieter von Mobilitätslösungen im Allgemeinen zu werden. Man kann das doch klug kombinieren. Ich freue mich über jedes Audi-Modell, das verkauft wird. Ich würde mich aber auch freuen, wenn mehr Berufspendler nicht alleine in ihrem Auto in unsere Stadt kämen, sondern sich zusammenschließen würden. Wenn jeder der 35.000 Einpendler nur eine zweite Person im Auto mitnähme , hätten wir noch 17.000 Autos täglich und der Verkehr würde auch ohne Maßnahmen wie den B27-Anschluss flüssiger laufen.


Fahrgemeinschaften bilden also. Was sagt die Verhaltensforschung zu der Idee?

Ralph Hertwig: Leider reichen ehrgeizige Ziele nicht. Wir müssen diese mit konkreten Handlungsplänen unterlegen. Am Beispiel von Fahrgemeinschaften könnte das bedeuten: Vielleicht haben einige Angst, dass einer der Fahrer unzuverlässig ist und man zu spät zur Arbeit kommt. Dieses Problem kann man aber voraussehen und Lösungen finden. Man muss planen, wie genau man das Ziel erreichen kann und wie man mit Problemen umgeht, die unweigerlich auftauchen.


Was könnte eine Kommune tun, um Verhaltensänderungen im Bereich Mobilität zu fördern?

Ralph Hertwig: Menschliches Verhalten hat drei wichtige Voraussetzungen: Motivation, Opportunität und Fähigkeit. Ich kann motiviert sein, auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen, wenn es aber in meiner Region kein ausreichendes Angebot gibt, habe ich keine Chance. Oder ältere Menschen: Sie fürchten vielleicht zu stürzen, wenn der Bus zu schnell anfährt. Eine Kommune oder Region muss alle drei Verhaltensvoraussetzungen auf dem Schirm haben und Lösungen für Probleme anbieten.


Wie weit gehen Sie für die Mobilitätswende? Sind Sie bereit, die Wehrbrücke für den Autoverkehr zu sperren?

Steffen Hertwig: (lacht) Nein, das wäre eine Maßnahme, die ins Herz der Neckarsulmer Wirtschaft treffen würde. Es würde auch Lieferverkehr und ÖPNV beeinträchtigen.


Gibt es Lehren für die Klimakrise aus der Corona-Pandemie? Was sagen Sie als Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung?

Ralph Hertwig: Die Zeitdimension ist einer der großen Unterschiede zwischen der Klimakrise und der Pandemie. Die Pandemie hat uns innerhalb weniger Wochen gezeigt, dass menschliches Verhalten veränderbar ist und zwar in einem Ausmaß, das wir nie für möglich gehalten hätten. Das ist die positive Botschaft aus Corona: Wir sind fähig, unser Verhalten drastisch zu verändern.


Steffen Hertwig (52) ist Jurist und seit 2016 Oberbürgermeister von Neckarsulm. Sein Bruder, Professor Ralph Hertwig (58), forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Seine Expertise ist auch im Expertenrat der Bundesregierung zur Corona-Pandemie gefragt. Die beiden sind in Talheim aufgewachsen. 

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