Stimme+
Heilbronn
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

Heilbronn war 1945 letztes Bollwerk im Südwesten

   | 
Lesezeit  4 Min
Erfolgreich kopiert!

Der Historiker Christhard Schrenk recherchierte in US-Archiven die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Heilbronn. Eine spannende Aufgabe mit neuen Erkenntnissen: Nach Berichten amerikanischer Soldaten war Heilbronn der härteste Kampf und ihr größter Sieg.

Kampf um die Ruinenstadt Heilbronn, datiert auf den 11. April 1945: Dieses bereits veröffentlichte Bild und rund drei Dutzend bislang unbekannte Aufnahmen hat Christhard Schrenk in amerikanischen Archiven entdeckt. Foto: National Archives Washington DC
Kampf um die Ruinenstadt Heilbronn, datiert auf den 11. April 1945: Dieses bereits veröffentlichte Bild und rund drei Dutzend bislang unbekannte Aufnahmen hat Christhard Schrenk in amerikanischen Archiven entdeckt. Foto: National Archives Washington DC  Foto: National Archives Washington DC, RG 111-SC 335307

Lange hat Heilbronn den Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der Zerstörung reflektiert. Archivdirektor Professor Dr. Christhard Schrenk weitet den Blick auf die gesamte Nazi-Zeit und wagt 75 Jahre nach der Befreiung der Stadt einen Perspektivenwechsel. Dazu durchforschte er US-Archive. Eigentlich sollten die Ergebnisse an diesem Freitag bei einer Gedenkveranstaltung in der Harmonie vorgestellt werden. Doch Corona kam dazwischen. Die Stimme konnte Schrenk für ein Interview gewinnen.

 

75 Jahre nach dem Ende des von den Nazis angestifteten Zweiten Weltkriegs werden selbst in Parlamenten wieder rechte Parolen laut, Juden werden öffentlich angefeindet.

Christhard Schrenk: Das ist schrecklich. Dafür habe ich null Verständnis, gerade vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus.

 

In Heilbronn reduziert man den Zweiten Weltkrieg oft auf den 4. Dezember, also den Tag der Zerstörung.

Schrenk: Natürlich war dieses traumatische Ereignis absolut prägend. Mindestens 50 Jahre lang hat man den 4. Dezember in erster Linie aus der Sicht der gepeinigten Heilbronnerinnen und Heilbronner betrachtet, die angstvoll in den Kellern saßen, als die Bomben fielen. Gleichzeitig haben Forscher wie Blumenstock 1957 das Kriegsende und Franke 1963 die Geschichte der Juden dargestellt.

 

Das ist ziemlich lange her.

Schrenk: Ich habe später anhand der sogenannten Machtübernahme von 1933 aufgezeigt, wie eine sozialdemokratisch-liberale Stadt brutal ins Gegenteil verkehrt wurde. Und von der Pogromnacht 1938, als an der Allee die Synagoge brannte, weiß heute jeder Schüler. Nicht zu vergessen: Zum Angriff 1944 haben Hubert Bläsi und ich vor 25 Jahren einen Perspektivenwechsel gewagt, ihn aus Sicht der englischen Bomber dargestellt, weltpolitisch eingeordnet und klargestellt: Der Krieg ging 1939 von Deutschland aus und kam dann später in grausamer Weise zurück - gerade auch nach Heilbronn, in eine Stadt, in der der Nationalsozialismus fest etabliert war.

 

Manche meinen, das zu sagen, sei eine Verhöhnung der Opfer.

Schrenk: Natürlich trafen die Bomben nicht nur Nazis, sondern auch Unschuldige, auch Kinder. Alles Leid muss man betrauern und beklagen - ohne den weltgeschichtlichen Zusammenhang zu ignorieren.

 

 

 

Die Rolle von NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz haben Sie wie berichtet neu beleuchtet. Aber was ist mit den Tätern in der zweiten Reihe?

Schrenk: Auch hier ist einiges geschehen, aber es gibt in der Tat Lücken. Lange haben es sich die Täter aus der zweiten Reihe bequem gemacht und möglichst die ganze Verantwortung auf die lokalen oder nationalen "Führer" und das System geschoben. Als eine Art Zwischenbilanz der Forschungen des Stadtarchivs Heilbronn zum Nationalsozialismus in Heilbronn stellen wir im Juni eine Publikation vor, die sich mit einzelnen Personen beschäftigt, die aber unter anderem auch Werkstattberichte zu aktuell laufenden Forschungsvorhaben enthält. Dabei geht es zum Beispiel um eine Doktorarbeit, in der unter anderem die Rolle des Rathauses untersucht wird, oder um Zwangsverkäufe und Rückerstattungsverfahren von Immobilien in Heilbronn nach 1933 und nach 1945.

 

Aktuell haben Sie auch zum Thema Kriegsende geforscht.

Schrenk: Ja, lange hat man in Heilbronn das Kriegsende nur aus deutscher Sicht betrachtet und nur einzelne US-Berichte ausgewertet. Ich habe alle verfügbaren Berichte zum sogenannten Kampf um Heilbronn zusammengetragen, deutsche und amerikanische. Wesentliche Fundorte waren die National Archives in Washington DC und die Marshall-Foundation in Lexington/Virginia. Dort finden sich die offiziellen US-Militärdokumente und viele Berichte von amerikanischen Soldaten.

 

Spannend. Was berichten die?

Schrenk: Tenor der GIs: Heilbronn war unser härtester Kampf und unser größter Sieg. Natürlich kann man auch da nicht alles für bare Münze nehmen, etwa dass sie von verrückten Frauen und Kindern beschossen wurden. Gekämpft haben in Heilbronn fast ausschließlich auswärtige deutsche Wehrmachtssoldaten. Teilweise war auch der Volkssturm, dieses allerletzte Aufgebot aus jungen und alten Männern und verletzten Soldaten, an den Kämpfen beteiligt, aber er war militärisch völlig wirkungslos.

 

Ihre Recherchen waren offenbar ganz schön kompliziert und aufwendig.

Schrenk: Allein die Tagesberichte der amerikanischen Militärs umfassen 1500 Schreibmaschinen-Seiten, vielen Abkürzungen, auf Englisch, unglaublich detailliert: vom Wetter über Munition, Verletzte, Truppenaufstellungen. In den National Archives gibt es auch zwei Dutzend Fotos zum Kampf um Heilbronn und einige Fotos aus der amerikanischen Besatzungszeit, von denen ich nur wenige kannte.

 

Wieso war Heilbronn so umkämpft?

Schrenk: Nachdem die US-Army den Rhein bei Mannheim überschritten hatte, war Heilbronn für die Nazis das letzte Bollwerk in Südwestdeutschland. Wohl wegen des Neckars und dem Bergrücken im Osten konnte die Wehrmacht die Stadt gut verteidigen, was einen Monat vor der offiziellen Kapitulation völlig unsinnig und wegen der vielen Toten besonders bitter war. Ähnlich sah es flussabwärts bei Jagstfeld aus. Als die Neckar-Jagst-Front trotz aller von der Wehrmacht gesprengten Brücken durchbrochen war, zog die Army schnell Richtung Süden.

 

Lassen Sie uns die Berichte von deutscher Seite nicht vergessen.

Schrenk: Da gibt es diverse Augenzeugenberichte von betroffenen Zivilisten aus Heilbronn und wenige Berichte von deutschen Soldaten. Die Amerikaner forderten direkt nach dem Krieg von deutschen Generälen Berichte über die letzte Kriegsphase an, doch das war nicht sehr ergiebig, die Wehrmachts-Generäle waren damals relativ kurz angebunden. Aber man kann insgesamt sagen, die Forschung zum Kriegsende in Heilbronn steht nun auf sichereren Füßen.


Zur Person und den Hintergründen dieses Interviews

Der 1958 in Stuttgart geborene Christhard Schrenk leitet seit 1992 das Stadtarchiv Heilbronn, zu dem das multimediale, nach dem Sponsor Otto Rettenmaier benannte Haus der Stadtgeschichte gehört. Schrenk studierte Mathematik und Geschichte, promovierte über Industrialisierungshistorie und ist Professor an der Hochschule Heilbronn. Er arbeitet und publiziert auf dem Gebiet der Regionalgeschichte Baden-Württembergs. Aktuell hat Schrenk nach Recherchen in den National Archives in Washington DC und im Marshall-Foundation in Lexington/Virginia neue Erkenntnisse zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Heilbronn gewonnen. 

Bei der zentralen Gedenkveranstaltung der Stadt in der Harmonie wollte er exklusiv darüber berichten. Doch wegen der Coronakrise wurde diese verschoben. Im Juni 2020 will das Stadtarchiv ein neues Buch zum Nationalsozialismus in Heilbronn vorlegen, eine Art Zwischenbilanz zu bisherigen und aktuellen Forschungen. Im Stimme-Interview macht der Herausgeber darauf neugierig. Es bildet einen Teil zu unserer Serie "75 Jahre Kriegsende", in der Christhard Schrenk bereits ein neues Licht auf die "Bluthochzeit von Neckarsulm" und die Rolle des brutalen NSDAP-Kreisleiters Richard Drauz geworfen hat.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
Nach oben  Nach oben