Die Stimmung ist am Boden, die Einsicht noch da
Erst kündigt die Politik eine "Osterruhe" an - und zieht dann die Maßnahme zur Pandemiebekämpfung zurück. Was macht das mit den Bürgern? Der Heilbronner Psychotherapeut Hans-Jürgen Luderer ordnet die Ereignisse der vergangenen Woche ein.

Eine Woche geht zu Ende, die viele Menschen in Deutschland als eine der frustrierendsten in der nunmehr über ein Jahr andauernden Pandemie empfunden haben dürften. In der Nacht auf Dienstag beschließt die Bund-Länderrunde wie aus dem Nichts eine von ihr so betitelte "Osterruhe" als Mittel zur Pandemiebekämpfung - kurz zuvor war noch von Erleichterungen bei den Kontaktbeschränkungen über die Feiertage die Rede gewesen. Bereits am Mittwochvormittag nimmt die Kanzlerin diese Entscheidung zurück, bezeichnet sie als "Fehler" und entschuldigt sich öffentlich.
Anerkennung für Angela Merkel, Frustration über die Pandemiepolitik insgesamt
Dieses Eingeständnis bringt Angela Merkel zwar viel Anerkennung ein. Gleichzeitig scheint das Vertrauen in die Pandemiepolitik erschüttert. Wissenschaftler wie der RKI-Modellierer Dirk Brockmann oder die Virologin Isabella Eckerle sagen, sie seien "müde und frustriert als Wissenschaftler". Denn während sich viele politische Entscheidungsträger nun an Öffnungen versuchen wollen - wie CDU-Ministerpräsident Tobias Hans, der angekündigt hat, den Lockdown im Saarland nach Ostern zu beenden -, steigen die Infektionszahlen unaufhörlich und die Covid-Stationen der Kliniken füllen sich. Es tritt ein, was viele Epidemiologen lange prognostiziert hatten.
Die Einsicht in die Notwendigkeiten von Maßnahmen ist nach wie vor hoch
Deutschland pendelt scheinbar immer verzweifelter zwischen den beiden Polen Seuchenbekämpfung und Normalität. Doch ist die Republik angesichts der Entwicklung der vergangenen Tage tatsächlich in Aufruhr, wie manche Kommentatoren meinen? Ist die Akzeptanz der Corona-Politik nachhaltig beschädigt? "Ich hoffe, das ist nicht der Fall", sagt der Heilbronner Psychiater und Psychotherapeut Hans-Jürgen Luderer. Doch das Bild der Uneinigkeit, das die Politik seit vielen Monaten abgebe, die Tatsache, dass Einigungen immer wieder zerredet und zurückgenommen werden, bringe Verunsicherung. "Die Menschen verlieren den Überblick." Gleichzeitig scheint die Einsicht in die Notwendigkeit von Einschränkungen nach wie vor groß zu sein. Laut aktuellem Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen finden 31 Prozent der Befragten die Corona-Maßnahmen richtig, 36 Prozent meinen sogar, sie müssten noch härter ausfallen.
Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung ist psychologisch eine große Herausforderung
Psychologisch sei vor allem der rasche Wechsel zwischen geweckter Hoffnung und enttäuschten Erwartungen problematisch, sagt Luderer. Viele Menschen hätten die Öffnungen der vergangenen Wochen als Signal dafür gesehen, dass wieder ein normales Leben beginne. "Diese Erwartung ist enttäuscht worden." Die rasche Abfolge aus Hoffnung und Enttäuschung sei ein Muster, das sich in der Pandemie ein ums andere Mal wiederholt habe.
Dabei sei die Lage medizinisch klar: "Seit Beginn der Pandemie ist bekannt, dass sich die Anzahl der Infektionen nur durch Reduktion körperlicher Kontakte und die bekannten AHA- plus L-Maßnahmen reduzieren lässt." Diese Notwendigkeit stehe in tiefem Widerspruch zum menschlichen Bedürfnis nach Nähe. "Der Mensch ist ein soziales Wesen." Deshalb seien auch Appelle allein nicht erfolgreich - und Kontaktreduktionen müssten erzwungen werden.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht interpretierbar
Was Luderer für verbesserungswürdig hält, ist die Kommunikation zur Begründung von Entscheidungen. "Manchmal wird ja so getan, als ob wissenschaftliche Erkenntnisse interpretiert werden könnten." Gut sichtbar war das beim Festhalten an der Aussage Kinder seien "keine Treiber der Pandemie", um Schulöffnungen in Baden-Württemberg zu begründen. Wissenschaftlich gilt diese These lange als widerlegt.
Luderer sagt: "Die Erkenntnis des letzten Jahre ist, dass sich die pessimistischen Prognosen kritischer Wissenschaftler in bemerkenswerter Weise als richtig herausgestellt haben." Die Wahrheiten seien jedoch "extrem unangenehm" - deshalb würden sie häufig von der Wahrnehmung "das kann doch nicht so weitergehen" und dem Wunsch "uns muss doch mal was anderes einfallen" überlagert.
Er hielte es für die Akzeptanz besser, wenn Politiker klar sagen würden, dass manche Entscheidungen gegen den medizinischen Rat von Virologen getroffen werden - weil andere Aspekte, etwa soziale, stärker gewichtet werden. Gleichzeitig sagt er: "Wenn man die gesundheitlichen Folgen jetzt ausblendet, werden die sozialen Folgen nur noch schlimmer."
Nicht vereinbar
Die Widersprüchlichkeit der Aufgabe sei das große Problem, sagt Hans-Jürgen Luderer: "Wir wollen beides: Infektionsschutz und eine Perspektive bieten." Aber Gesundheitsschutz und Normalität seien eben kaum zu vereinbaren. So komme das Hin und Her zustande, das als politisches Chaos wahrgenommen werde.