Das Wollhaus von London
Das Barbican ist eine Ikone brutalistischer Architektur inmitten der britischen Hauptstadt. Es gibt durchaus Ähnlichkeiten mit dem umstrittenen Heilbronner Wollhaus-Komplex. Welche Lehren lassen sich ziehen?

Wer aus der Station "Barbican" der London Underground tritt, vor dem türmt sich, abgetrennt durch eine viel befahrene Straße, eine Wand aus Beton auf. Laut und stinkend schiebt sich der Verkehr der Millionenmetropole hier vorbei, die geschäftige City of London um die St. Paul"s Cathedral und die Touristenattraktionen entlang der Themse sind nicht fern.
Mutige, die sich von diesem Anblick nicht schrecken lassen und hinter die braun-grauen Hochhaustürme blicken, entdecken, nur wenige Meter und Treppenstufen entfernt, eine Insel inmitten der Großstadt. Vom Lärm abgeschirmt liegt sie da, begrenzt durch einen künstlichen See, auf dem Seerosen sanft im Wasser schaukeln. Männer mit über die Schulter geworfenen Krawatten sitzen an Picknicktischen und essen ihre mitgebrachten Sandwiches. Kinder rennen zwischen Pflanzkübeln umher, während ihre Mütter mit Kaffeebecher in der Hand über sie wachen.
Areal wurde im Zweiten Weltkrieg von deutschen Bomben zerstört

Der Barbican-Komplex ist ein Nachkriegsprojekt zur Überbauung eines nahezu vollständig von deutschen Bomben zerstörten Areals in London. Zwischen 1955 und 1959 entwarf das renommierte Architekturbüro Chamberlin, Powell & Bon die Pläne für die Neubebauung des Geländes. Die Vision der Planer war es, einen autofreien Raum, abgeschottet vom Verkehr der Stadt, zu schaffen, den Menschen zu Fuß erobern können. Die Seen und eine Bepflanzung von Wegen und Balkonen sollten Aufenthaltsqualität schaffen, eine eher neue Erscheinung dürften die kleinen urbanen Gärten sein, die zwischen den Hochhausblocks entstanden sind.
Ab 1963 wurden die drei Wohntürme mit über 2000 Einheiten errichtet. Ab Anfang der 1970er-Jahre kam das Barbican Centre mit Theater, Bücherei, Schulen, Gastronomie und Kinos hinzu. 1982 eröffnete Queen Elizabeth den Komplex feierlich. Er gilt heute als das größte Kunst- und Kulturzentrum der Stadt, das London Symphony Orchestra hat hier seinen Sitz.
Das Barbican ist eine Ikone des Brutalismus - ein Architekturstil der Moderne, der ab 1950 bis in die 1980er-Jahre Verbreitung fand. Der Begriff leitet sich vom französischen béton brut (Roher Beton) ab. Lange Zeit wurden brutalistische Gebäude geringgeschätzt und vielfach dem Abriss preisgegebenen, inzwischen werden ihre ästhetischen Reize wiederentdeckt.
Der Unterschied zu Heilbronn: Das Barbican ist penibel gepflegt

Vielerorts ist das Image von Gebäuden aus dieser Zeit weiter schlecht, wie in Heilbronn, wo das Wollhaus, erbaut 1972 bis 1975, polarisiert. Ähnlichkeiten zum großen Londoner Ensemble sind durchaus erkennbar: die unterschiedlichen Gebäude-Elemente mit Flachbau und Turm, die Empore hoch über der Wollhausstraße, die eine Verbindung zwischen Kernstadt und dem Areal an der Wilhelmstraße herstellt. Eine Bar hat sich dort angesiedelt, derzeit ist sie geschlossen, zuvor war sie nächtlicher Treffpunkt an Wochenenden.
Der große Unterschied in London: Das Barbican ist penibel gepflegt, hier sieht man keine bröselnden Treppenstufen, blinden Fenster oder Müll, der sich in den Ecken sammelt. Männer in Arbeitskleidung sind an diesem Tag mit Handwagen unterwegs, schneiden Büsche zurück und fegen den Boden.
Auf die Nutzung kommt es an
Gebäude lebten von ihrer Nutzung, sagt Philip Kurz, Architekt und Geschäftsführer der Wüstenrot-Stiftung in Ludwigsburg. "Wenn man Freude und Glück darin hat, dann werden sie auch geliebt." Die Pflege sei ebenso entscheidend. "Zeichen des Verfalls sind wesentliche Gründe, wenn Gebäude einen schlechten Leumund haben." Durch gute Konzepte und Instandhaltung ließen sich auch aus ungeliebten Quartieren "tolle, neue Stadtbausteine" machen.
SOS Brutalismus
2015 starteten das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Frankfurt und die Wüstenrot Stiftung das Projekt "SOS Brutalismus". Das Ziel: Die Schaffung einer internationalen Bestandsaufnahme zum Brutalismus in der Architektur. Auch das Wollhaus findet sich inzwischen in der Internet-Datenbank unter sos.brutalismus.org. Aus dem Projekt entstanden ist ebenso eine Ausstellung, die aktuell in Taipeh zu Gast ist.