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Armutsquote in Baden-Württemberg erreicht neuen Höchststand

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Was bedeutet es, arm zu sein? Aktuell hat Deutschland die höchste Armutsquote seit zehn Jahren. Hilfsprogramme wie Tafeln kommen an ihre Grenzen. Sozialverbände schlagen Alarm und fordern staatliche Unterstützung.

Die Armutsquote in Baden-Württemberg erreicht 2021 mit 13,9 Prozent einen neuen Höchststand seit zehn Jahren.
Die Armutsquote in Baden-Württemberg erreicht 2021 mit 13,9 Prozent einen neuen Höchststand seit zehn Jahren.  Foto: Stephanie Pilick/dpa/Illustration

Kinder, Alleinerziehende, Senioren. Diese Menschen sind besonders häufig von Armut betroffen. Doch was bedeutet es eigentlich, arm zu sein? Eine allgemeingültige Definition gibt es nicht. Armut bedeute nicht, Hunger oder kein Dach über dem Kopf zu haben. Das erklärt Berthold Krist vom Sozialverband VDK in Künzelsau. „Armut zwingt vielmehr in einem reichen Industrieland die Betroffenen zu einem beschwerlichen Leben.“ Alles stehe unter dem Diktat des Monetären. „Kindern werden Chancen verweigert, die sie eigentlich verdienen. Alleinerziehende führen ein Leben, in dem Entscheidungen für etwas immer Entscheidungen gegen etwas sind. Alte Menschen fühlen sich unwürdig behandelt.“

Teilhabe am Leben erschwert

Ähnlich beschreibt das auch Elisabeth Ernst vom Kreisdiakonieverband Hohenlohekreis: „Armut zeigt sich dann, wenn Menschen aufgrund fehlender finanzieller Möglichkeiten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert oder gar unmöglich wird. Armut zeigt sich dann, wenn Menschen ihr ganzes Einkommen für Waren des täglichen Bedarfs ausgeben müssen, also für Wohnen, Essen, Energie.“

Benachteiligung

Die Folgen von Armut sind dabei gravierend. Sie hängt mit Bildungsarmut zusammen. Und: Wer arm geboren ist, bleibt das meist auch. Laut dem Spiegel besteht bei Kindern aus Haushalten mit einem niedrigen Bildungsabschluss ein Risiko von 61 Prozent, dass sie in Armut aufzuwachsen.

Katja Knorr vom Paritätischen Kreisverband erklärt: „Von Armut betroffene Menschen haben nicht die gleichen Bildungs- und Teilhabechancen in unserer Gesellschaft. Chancengerechtigkeit, Bildungserfolg und Lebenschancen hängen immer noch eng mit der finanziellen Situation von Familien zusammen.“ Da das geringe Einkommen der Familien vollständig für Wohnen und Lebenshaltung verbraucht werde, bleibe für andere Lebensbereiche – wie Kultur, Freizeit und andere Aspekte der sozialen Teilhabe – kaum etwas übrig. Knorrs Fazit: „Armut ist Diskriminierung.“


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Elisabeth Ernst vom Kreisdiakonieverband geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wenn mit Diskriminierung ein verächtlicher Umgang mit Menschen gemeint ist, dann kann dieser Begriff in diesem Zusammenhang verwendet werden. Wenn Familien mit mehreren Kindern per se als ,asozial’ bezeichnet werden oder gar ein Kind ein ,Armutsrisiko’ darstellt, zeigt das einen würdelosen Umgang gegenüber Menschen. Kinder werden gegen Geld aufgerechnet.“

Dazu kommt: Armut ist kein Randphänomen. In Deutschland war 2021 jeder Sechste von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen, heißt es im paritätischen Armutsbericht. Demnach erreicht die Armutsquote in Baden-Württemberg 2021 mit 13,9 Prozent einen neuen Höchststand seit zehn Jahren. Gegenüber 2020 stieg die Quote um 6,1 Prozent an. Betroffen sind nun über 1,5 Millionen Menschen im Land. Im bundesweiten Vergleich steht Baden-Württemberg auf Rang zwei hinter Bayern (12,6 Prozent). In Heilbronn-Franken liegt die Armutsquote bei 13,3 Prozent.

60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens

Auf dem Papier zählt ein Mensch als arm, wenn er weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens verdient. Für einen Single-Haushalt liegt die Schwelle bei unter 1.148 Euro, für Erwachsene mit einem Kind (bis 14 Jahre) bei 1.496 Euro. Ein Paar mit zwei Kindern (bis 14 Jahre) gilt als arm mit weniger als 2.410 Euro netto pro Monat.

Lösungsansätze

Einkommensschwache Menschen treffen die aktuellen Preissteigerungen durch Inflation und Energiekrise mit besonderer Wucht. Das werde die Schere zwischen ärmeren und reicheren Haushalten sehr wahrscheinlich noch einmal deutlich vertiefen, sagt der Paritätische. Er fordert – neben einer gerechteren Einkommenspolitik – „die Einführung einer kostenfreien Gemeinschaftsverpflegung in der Kindertagesbetreuung und an den Schulen sowie die kostenfreie oder zumindest erheblich kostenreduzierte Nutzungsmöglichkeit des ÖPNV für Menschen in der Grundsicherung. Dazu brauchen wir ein deutlich größeres Landesarbeitsmarktprogramm.“ Im Kampf gegen Armut sei der beste Weg, Menschen in armutsfeste Erwerbstätigkeit zu vermitteln. Löhne und Mindestlöhne dürften dabei nicht nur existenzsichernd sein, sondern müssten zugleich eine eigene ausreichende Alterssicherung ermöglichen. Hier müsse die Landesregierung mehr eigene armutspolitisch wirksame Anstrengungen gegen die Ursachen von Armut unternehmen.


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Zudem fordert der Paritätische eine Übergewinnsteuer für Unternehmen, die mit Krieg und Krisen außergewöhnlich hohe Erträge erwirtschaftet haben und weiter erwirtschaften. Arne Höller, Kreisvorsitzender des Paritätischen Kreisverbandes Hohenlohe, merkt an: „Es gibt ganz konkret die Möglichkeit, lokal tätige Organisationen der freien Wohlfahrtspflege zu unterstützen und darüber hinaus Verantwortung für den eigenen Sozialraum zu übernehmen. Hier geht es nicht allein um Geldspenden, es kann genauso gut die ehrenamtliche Unterstützung in einem Tafelladen sein.“

Unterstützung

Die Tafeln in Heilbronn und Öhringen freuen sich weiterhin über Unterstützung – sei es durch Sach- und Lebensmittelspenden oder durch Ehrenamtliche. Begehrte Spenden sind lang haltbare Lebensmittel wie Mehl, Zucker, Nudeln und Dosenware, aber auch Produkte des täglichen Gebrauchs wie Deo, Zahnpasta und Zahnbürsten. In Heilbronn werden auch Kleiderspenden angenommen. Helfer werden gebeten, sich vorab telefonisch anzumelden. Bei der Heilbronner Tafel unter 07131 568100, bei der Öhringer Tafel unter 07941 647662. 


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Erna Weilert, Öhringen

Erna Weilert ist eine von vielen Stammkundinnen der Öhringer Tafel. Sie unterhält sich mit einem anderen russischsprachigen Besucher. 1993 ist sie aus Kasachstan nach Deutschland geflüchtet. Die 85-Jährige, die in Öhringen wohnt, läuft häufig das Martersgässle entlang. „Ich habe eine große Familie und brauche immer etwas. Ich habe fünf Kinder, 15 Enkel und einige Urenkel. Nach der Kirche komme ich gerne hier her und hoffe darauf, ein paar Eier oder etwas Zucker mitnehmen zu können.“ Ihr Mann sei krank und sitze im Rollstuhl. Weilert genießt die kleinen Ausflüge und die Gespräche mit anderen Kunden des Öhringer Tafelladens. Die Ware dort sei immer heiß begehrt: „Jeder will etwas mitnehmen, die Mengen sind begrenzt – etwa auf eine Packung Zucker oder zehn Eier.“ Insgesamt 1100 Menschen haben hier eine Berechtigungskarte, dürfen also in der Tafel vergünstigt einkaufen.

Feresta Ashgari, Heilbronn

Zu den jüngeren Besuchern gehört die 31-jährige Feresta Ashgari. Die Afghanin lebt seit fünf Monaten in Heilbronn und ist sehr dankbar für das Tafelangebot. Nach ihrer Flucht habe sie zunächst ein halbes Jahr in München gelebt. „Die Situation in Afghanistan ist sehr schlecht für mich, denn ich arbeitete für die alte Regierung. Zudem bin ich eine Hazara, und die Taliban sagen, ich wäre ungläubig.“ Hazara sind eine traditionelle ethnische Gruppe in Afghanistan, die drittgrößte anerkannte ethnische Gruppe dort. Nun ist Ashgari in einem Heim untergekommen und froh, dass Energie- und Wasserkosten für sie übernommen werden. So leidet sie zumindest nicht unter den steigenden Energiepreisen. Aufgefallen ist ihr in Deutschland: „Alles ist sehr teuer hier – das Wohnen, das Essen.“ Dennoch schließt sie eine Rückkehr in ihre Heimat vorerst aus. Zu sehr weiß sie ein Leben in Freiheit zu schätzen.

Anita M. (Name geändert), Heilbronn 

Anita M. musste aus gesundheitlichen Gründen mit 62 Jahren in Rente gehen. Die heute 70-Jährige habe nach ihrem ersten Besuch bei der Tafel geweint: „Ich bin heulend rausgegangen, weil ich mich so geschämt habe“, erzählt sie während ihr erneut die Tränen kommen. Sie beklagt die langen Wartezeiten, zeitweise stehe sie vier Stunden in der Schlange, bis sie in den Laden dürfen. Die Reihenfolge, in der die Menschen eingelassen werden, sei für sie nicht zu durchschauen. „Wegen der langen Wartezeiten komme ich inzwischen nur einmal im Monat, statt wie früher alle zwei Wochen. Das lange Warten tue ich mir nicht an.“ Pech habe man zudem, wenn man relativ zum Schluss an die Reihe komme. „Dann sind fast keine Lebensmittel mehr da“, sagt die Sontheimerin. Sie wünscht sich, dass auch bei späterem Einlass noch ausreichend Ware da ist und die Mengen nicht begrenzt sind.

Kate Gelikh, Heilbronn

Eine von vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die bei der Heilbronner Tafel anstehen, ist Kate Gelikh aus Mariupol. Die 40-Jährige ist mit ihrer Mutter, ihrem Mann und ihren zwei Kindern geflohen, die elf und 15 Jahre alt sind. Sie sind bei einer Familie in Biberach untergekommen. „In Mariupol hatte ich mein eigenes Café. Ich hoffe, ich finde hier in Deutschland schnell einen Job – egal in welchem Bereich.“ Sie wirkt routiniert im Ablauf der Tafel, wartet geduldig darauf, dass ihr Name aufgerufen wird und sie in den Laden darf. Auch ihr ist aufgefallen, wie teuer das Leben in Deutschland ist, insbesondere die hohen Kosten fürs Wohnen. „Ich habe keine Heimat mehr, meine Heimat wurde zerstört“, sagt Kate Gelikh. Dennoch hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben: In einem Jahr will sie zurückkehren nach Mariupol. Nur ihre Kinder sollen in Deutschland bleiben, wegen des Krieges in der Ukraine.

 

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