Die Mensch-Maschine: Beeindruckendes Konzert von Kraftwerk in Karlsruhe
Wenn grüne Ziffern über die Fassade flitzen: Kraftwerk spielen ihr einziges Deutschlandkonzert vor einmaliger Kulisse im Schlosspark von Karlsruhe. Das ist vor allem einer langjährigen Freundschaft zu verdanken.

Grüne Zahlen sind es, mit denen alles losgeht. "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht", zählt eine Computerstimme hoch. Was dann folgt, ist auch für den Hightech-Standort Karlsruhe neu: Die ganze Schlossfassade wird in grüne Ziffern getaucht, Computerbeats hämmern aus den Boxen, die Stimme zählt immer wieder hoch. 16.000 im Schlosspark starren gebannt auf das Farbeninferno, das sich im Halbkreis um sie herum abspielt. Zu ihrem einzigen Konzert in Deutschland stehen die Elektropioniere von Kraftwerk auf dem Schloss-Balkon.
ZKM-Vorstand arbeitete am Videokonzept mit
Es war die langjährige Freundschaft zwischen Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter und Peter Weibel, 24 Jahre Vorstand des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM), die dieses Event ermöglicht hat. Gemeinsam hatten sie bis kurz vor dessen Tod im März das künstlerische Konzept ausgearbeitet, um die 164 Meter breite Fassade des Schlosses komplett in die Videoshow zu integrieren. Da saust der Trans-Europa-Express in voller Länge von rechts nach links, schwebt das Spacelab über die Mauern, landet ein Ufo im Hof.
Die Roboter grüßen in rotem Hemd mit schwarzer Krawatte - manch ein Zuschauer hat sich für diesen einmaligen Abend ebenso angezogen. Bei "Vitamine" regnen Pillen über die volle Breite hinab, in vier gigantischen Wassergläsern sprudeln Tabletten. Und "Radioaktivität", eigentlich 1975 auf Rundfunkwellen bezogen, ist längst zu einem Anti-Atomkraft-Statement geworden: Erst strahlen die Namen von Katastrophenorten - Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield, Hiroshima und Fukushima - von der Wand, begleitet von elektrischen Schlägen, dann erleuchtet das gesamte Schloss im rot-gelben Radioaktivitäts-Warnzeichen.
Die Videos beziehen die Entstehungszeit der Songs mit ein

Kraftwerk sind Pioniere. Als erste Band haben sie Alben herausgebracht, die ausschließlich mit Computertechnik komponiert und eingespielt wurden. "Die Roboter", "Autobahn" oder "Tour de France" sind Meilensteine, auf die sich dutzende Bands berufen. Alle diese Wegmarken gibt es Karlsruhe zu sehen und zu hören.
Die Videos bleiben dabei ausdrücklich in der Zeit, in der die Songs entstanden: Auf der Autobahn sind vor allem VW-Käfer, Mercedes Strich-8 und Citroen DS unterwegs. Der "Heimcomputer" ist noch ein Metallkasten mit eingebauter Tastatur. Und selbst bei "Boing Boom Tschak" bleibt es bei den Gitternetz-Grafiken, mit denen die Band damals Musikvideo-Geschichte schrieb. Und das war 1986.
Bassbeats, dass die Magengrube erzittert
Altmodisch und aus der Zeit gefallen ist dies aber keineswegs. Kraftwerk sind nicht umsonst Vorbild für die Techno-Szene - bis heute. Die Bassboxen laufen zeitweise zur Hochform auf, dass die Beats die Magengrube zum Flattern bringen. Nichts wirkt dann kalt und steril. Die Menge beginnt zu wogen, manche wagen auf dem von einem kurzen Regenguss aufgeweichten Boden ein paar Tanzschritte. "Musique Non Stop - Techno Pop!" dröhnt es aus den Lautsprechern, die eigentlich gar nicht so groß sind, aber wirkungsvoll über das Gelände verteilt wurden. Manchmal wirkt die Lichtorgie, als werde die Musik sichtbar gemacht - mit sirrenden Sinuskurven, flirrenden Querstreifen und schmalen Balken in Rotviolett und Blau.
Einzig "Das Model" fällt da ein bisschen aus dem Rahmen. Ralf Hütter, mittlerweile 76, übernimmt hier wie auch in einigen wenigen weiteren Songs den Gesang. Auch wenn es bei der Aussteuerung etwas hakt, sitzen die Töne. Die Videos und Fotos sind dafür nicht aus dem Computer, sondern Schwarz-Weiß-Mode-Aufnahmen, die um den Weltkrieg herum entstanden sein müssen. Dies ist das Realistischste, was die Zuschauer zu sehen bekommen.
Vier Männer in schwarzen Ganzköperanzügen: Die Mensch-Maschine
Und die Band? Wie immer in schwarzen Ganzkörperanzügen mit Gittermuster, hinter vier Steuerungsboards verschanzt, ist sie auf dem Balkon in der Mitte der Fassade positioniert. Viel ist von den vier Mannen nicht zu erkennen. Aber große Gesten oder Publikumsansprachen sind auch nicht Teil des Konzepts. Sie sind eben die Roboter, die Mensch-Maschine, die stur ihre Arbeit verrichtet. Song auf Song, zwei Stunden lang, bis sie nacheinander die Geräte abschalten und hinter dem Vorhang verschwinden.
Bandgeschichte
Kraftwerk wurden 1970 von Ralf Hütter und Florian Schneider in Düsseldorf gegründet. Ihr Album "Autobahn" gilt als erstes Album des Elektropop. Insgesamt hat die Band zehn Studioalben und ein Livealbum veröffentlicht, zuletzt 2003 "Tour de France Soundtracks". Zu den bekanntesten und erfolgreichsten Songs zählen "Das Model", "Die Roboter" und "Musique Non Stop". Die Band besteht nach dem Tod von Florian Schneider (2020) heute neben Ralf Hütter aus Fritz Hilpert, Henning Schmitz und Falk Grieffenhagen. 2021 wurde Kraftwerk als erste deutsche Band in die Rock 'n' Roll Hall Of Fame aufgenommen.