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Olaf Scholz - Kanzler ohne Schonzeit

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Aufbruch, Fortschritt, Neuanfang: Mit solchen Begriffen haben Olaf Scholz und die Ampel-Parteien die Erwartungen an eine neue Bundesregierung hochgeschraubt. Jetzt können sie beweisen, ob etwas dahintersteckt - mitten in einer der tiefsten Krisen der Republik.

Von Michael Fischer und Theresa Münch, dpa
Für Olaf Scholz gab es am Mittwoch immer wieder Applaus. Foto: dpa
Für Olaf Scholz gab es am Mittwoch immer wieder Applaus. Foto: dpa  Foto: Kay Nietfeld (dpa)

Olaf Scholz ist dafür bekannt, dass er mit leiser Stimme spricht. Doch als er am Mittwoch um 10.20 Uhr von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gefragt wird, ob er die Wahl zum Bundeskanzler annimmt, legt er die schwarze FFP2-Maske ab, lässt das Mikrofon beiseite, und antwortet ausnahmsweise laut und deutlich: "Ja".

395 Abgeordnete haben ihm vorher ihre Stimmen gegeben, 21 weniger, als die Koalition Stimmen hat. Einige Abgeordnete sind krank und deshalb nicht da, außerdem hat es auch bei früheren Kanzlerwahlen immer wieder Abweichler in den Koalitionsreihen gegeben. Kein Grund zur Sorge also für den frisch gewählten Kanzler.

Nach der Wahl geht es ins Schloss Bellevue, wo Scholz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunde erhält. Damit ist er offiziell Bundeskanzler. Die so lange verfolgte Mission Kanzleramt, sie ist geschafft.

Um Punkt 12 Uhr nimmt der 63-Jährige wieder im Bundestag Platz. Es scheint, als erkundige er sich kurz, wo er sitzen soll. Dann geht er zu den blauen Stühlen der Regierungsbank, zum Kanzlerplatz. Als er sich setzt, ist er dort ganz alleine, ein einsamer Kanzler noch ohne Kabinett. Die Ministerinnen und Minister sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ernannt. Den folgenden Amtseid spricht Scholz ohne den Glaubenszusatz "so wahr mir Gott helfe". Er ist zwar evangelisch getauft, aber aus der Kirche ausgetreten.


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Meinung zur neuen Regierung: Kanzler Scholz muss die Aufbruch-Rhetorik mit Leben füllen


Erste Ampelkoalition auf Bundesebene besiegelt

Die erste Ampelkoalition auf Bundesebene ist mit dem Votum im Bundestag endgültig besiegelt. Deutschland hat zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl wieder eine Regierung ohne den Zusatz "geschäftsführend". Für den historischen Moment hebt Parlamentspräsidentin Bas (SPD) vor Verkündung des Wahlergebnisses sogar das Foto-Verbot für Abgeordnete auf. "Damit ich nicht 736 Ordnungsrufe machen muss, erlaube ich gleich allen für diesen Tag, allen Abgeordneten, zu fotografieren", sagt sie. "Aber bitte diskret." Scholz muss sich später vielen Selfies stellen.

Aus allen Fraktionen außer von der AfD erhält er Applaus. Auch von den Besuchertribünen gibt es Beifall. Auf der einen sitzen Scholz' Eltern, seine Frau Britta Ernst, und der einzige noch lebende SPD-Altkanzler Gerhard Schröder mit seiner Frau Soyeon Schröder-Kim in der ersten Reihe. Der Vater erzählt später, sein Sohn habe schon mit etwa 12 Jahren den Berufswunsch Bundeskanzler gehabt. "Er hat sich dieses Ziel sehr früh gesetzt, da war er noch Schüler", sagt der 86-Jährige. Dass Olaf es jetzt geworden sei, löse bei ihm ein "Glücksgefühl" aus.


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Olaf Scholz (SPD), designierter Bundeskanzler, spricht bei der Vorstellung der SPD-Minister und -Ministerinnen im Willy-Brandt-Haus für die Bildung der neuen Bundesregierung. Foto: dpa
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Was man über die neuen Minister wissen muss


Auf der anderen Tribüne sitzt Noch-Kanzlerin Angela Merkel, eingerahmt vom früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Altbundespräsident Joachim Gauck. Als das Ergebnis verkündet wird, zeigt sie - typisch Merkel - noch einmal die Raute. Mit ein wenig Verzögerung erhebt sie sich, fängt an zu klatschen. Es sind die letzten Momente einer 16-jährigen Ära, in der Merkel als erste Kanzlerin der Bundesrepublik die Geschicke des Landes geleitet hat.

Merkel-Stil bleibt: solides Management statt Spektakel

Merkel geht, ihr Stil aber bleibt. Scholz, der vier Jahre als Vizekanzler mit ihr zusammengearbeitet hat, nimmt das Merkelsche Erfolgsrezept mit in die neue Regierung: solides Management statt Spektakel. Bei der Pressekonferenz nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags am Dienstag wurde das nur zu deutlich. Viel ließ Scholz da nicht durchblicken, einige Fragen beantwortete er konsequent gar nicht. Wie der "Aufbruch", der von Scholz und den anderen Ampel-Koalitionären immer wieder beschworen wird, wirkte das noch nicht.

Zunächst einmal wird es für den Kanzler um die faktischen Zwänge gehen. Er übernimmt die Regierung mitten in einer Krise, wie sie die Republik noch nicht gesehen hat. Die Corona-Infektionszahlen halten sich auf Rekordniveau, in einigen Regionen Deutschlands ist die Lage in den Krankenhäusern dramatisch.

Normalerweise sagt man, eine neue Regierung habe eine Schonfrist: 100 Tage zum Eingewöhnen und Ausprobieren, für erste Entscheidungen, Programme und Projekte. Eine Zeit, in der Beobachter sich mit Bewertungen noch zurückhalten. Für Scholz war es umgekehrt. Seine Schonzeit endete eigentlich schon 48 Tage vor der Kanzlerwahl, an dem Tag, an dem die Koalitionsverhandlungen begannen und klar war: SPD, Grüne und FDP meinen es ernst mit der ersten Ampel-Bundesregierung.


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Olaf Scholz, SPD-Kanzlerkandidat und Finanzminister, kommt zu dem Tagungsort für die Sondierungsgespräche. Heute beraten die SPD mit der FDP und Bündnis 90/Die Grünen erneut zur Bildung einer neuen Bundesregierung nach der Bundestagswahl. +++ dpa-Bildfunk +++
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Olaf Scholz und sein Weg ins Kanzleramt


Fortan gab es zwei Regierungen: eine, die noch nicht ganz weg war, und eine, die noch nicht richtig loslegen konnte. Das Machtvakuum führte zu einem zwischenzeitlich ziemlich holprigen Management des Kampfes gegen Corona. Erst spät bekamen Noch-Kanzlerin Merkel und Bald-Kanzler Scholz die Kurve und einigten sich auf ein Konzept, um die vierte Welle der Corona-Pandemie einzudämmen.

Mahnung des Bundespräsidenten bei der Ernennung des Kabinetts

Steinmeier mahnte das neue Kabinett bei der Ernennung, nun entschlossen gegen die Pandemie vorzugehen. "Die Menschen hoffen darauf, dass Sie Führung zeigen und - gemeinsam mit den Ländern - die notwendigen Maßnahmen ergreifen", sagte der Bundespräsident. "In der akuten Notlage kommt es darauf an, nicht auf die Lautesten zu hören, sondern dafür zu sorgen, dass uns die Pandemie nicht ein weiteres Jahr fest im Griff hält und öffentliches Leben wieder selbstverständlich werden kann."

Schon am Freitag steht für die Ampel-Koalition die erste Entscheidung zur Corona-Bekämpfung im Bundestag an. Dann werden Änderungen am Infektionsschutzgesetz beschlossen, um den Ländern die Reaktionsmöglichkeiten auf die Pandemie wieder zu erleichtern.

Aber es gibt auch darüber hinaus ziemlich viel akuten Handlungsbedarf: Scholz hat 30 Millionen Erst-, Zweit- und Boosterimpfungen bis Ende des Jahres versprochen. Schnell soll der Bundestag auch über eine allgemeine Impfpflicht abstimmen, die nach Wunsch des Kanzlers dann spätestens Anfang März gelten könnte.

Am 1. Januar übernimmt Deutschland zu allem Überfluss in der G7 der größten westlichen Wirtschaftsmächte den Vorsitz. Doch nicht nur in Kanzleramt und Gesundheitsministerium gibt es zu tun: Der neue Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat nur noch wenige Wochen, um vor Jahresende einen Nachtragshaushalt auf die Beine zu stellen. Sonst geht der Ampel-Plan nicht auf, Kredite, die in diesem Jahr gar nicht gebraucht wurden, als Spielraum in die nächsten Jahre mitzunehmen. Mit dem regulären Haushalt für 2022 kann sich Lindner dagegen etwas Zeit lassen, der kommt nach einer Bundestagswahl so gut wie immer verspätet.

Und dann wäre da noch die ungewohnte Dreier-Konstellation in der Bundesregierung. Nicht wenige wetten bereits, dass der während der Verhandlungen offen zur Schau getragene Frieden nicht lange halten wird - und dass die alten Gräben zwischen SPD, Grünen und FDP etwa in finanz- und außenpolitischen Themen bald wieder aufbrechen. Nicht umsonst kommt etwa aus der SPD schon das Versprechen, mehr als nur ein Sprachrohr der neuen Bundesregierung sein zu wollen.

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Merkel übergibt Amtsgeschäfte an ihren Nachfolger

Und was wird aus Merkel? Sie wolle erstmal eine Pause einlegen und nachdenken, "was mich so eigentlich interessiert", hatte sie vor ein paar Monaten bei einem USA-Besuch gesagt. "Und dann werde ich vielleicht versuchen, was zu lesen, dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal."

Vorher übergab sie nach der Bundestagssitzung am Mittwoch aber noch die Amtsgeschäfte an ihren Nachfolger. Die beiden haben in den letzten vier Jahren einiges zusammen durchgemacht als Kanzlerin und Vizekanzler. Sie waren ein eingespieltes Team, zusammengeschweißt vor allem durch die gemeinsame Krisenbewältigung, wie Scholz es sagt.

Für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, von denen wegen Corona nur wenige an der Übergabezeremonie vor der berühmten blauen Wand mit dem Bundesadler teilnehmen konnten, dürfte sich also gar nicht so viel ändern. "Ich will gerne anknüpfen an die, wie soll man das sagen, nord-ostdeutsche Mentalität, die da bisher geherrscht hat", verspricht Scholz ihnen. "So viel wird sich da nicht ändern."

Merkel bekommt vom Personalratschef Daniel Krause eine Brotbox mit der Gravur "BKin a.D." und Wanderstöcke geschenkt. Ihre "Famous last words", die berühmten letzten Worte, sind an das Kanzleramtspersonal gerichtet: "An die Arbeit!" Auf dem Weg nach draußen stehen viele noch Spalier und applaudieren. Dann ist sie weg. Vielleicht wird Merkel nie wieder an ihren Arbeitsplatz der letzten 16 Jahre zurückkehren. Wenn überhaupt, dann als Gast. Ihre Ära ist vorbei.

Ihren festen Platz wird die erste Altkanzlerin der Republik künftig trotzdem noch im Kanzleramt haben. Es gibt eine Gemäldegalerie im ersten Stock mit Porträts aller ihrer Vorgänger. Neben Gerhard Schröder ist dort ein Platz für sie reserviert.

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