„Das Verständnis für die junge Generation fehlt in vielen Unternehmen“
Der Arbeitskräftemangel wird sich weiter verschärfen. Noch haben Organisationen Zeit, proaktiv darauf zu reagieren, sagt New-Work-Beraterin Nadja Nardini. Um junge Menschen zu gewinnen, sei eine Veränderung des Mindset nötig.

In der Arbeitswelt vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel, der vor allem durch zwei Aspekte geprägt ist: Den in fast allen Branchen spürbaren Mangel an Arbeitskräften und die Möglichkeit, „remote“, also aus der Ferne, zu arbeiten. Eine Entwicklung, die sich durch die Pandemie zeitweise beschleunigt hatte. Inzwischen sei jedoch zu beobachten, dass einige Organisationen wieder eine Büropflicht einführten, um vermeintlich „die Kontrolle zurückzuerhalten“, sagt New-Work-Beraterin Nadja Nardini. Sie hält das für keine gute Idee.
Viele Unternehmen suchen verzweifelt nach Arbeitskräften und fragen sich: „Wo sind die ganzen Leute hin?“ Oder auch: „Will die junge Generation überhaupt noch arbeiten?“
Nadja Nardini: Die ganze Welt hat sich verändert, sie ist globaler, digitaler und vernetzter. Das beeinflusst auch unsere Arbeitsweise und der über viele Jahrzehnte sehr klassisch organisierte deutsche Arbeitsmarkt wandelt sich. Zu beobachten ist dabei vielfach ein Clash der Generationen. Die Arbeitsmentalität der älteren Generation stammt noch aus der Zeit der Industrialisierung, in der es vor allem um eine Erhöhung der Effizienz mittels Arbeitsteilung ging. Kreativität und Eigeninitiative hatten kaum Platz, stattdessen gab es Kontrollmechanismen und eindeutige Hierarchien.
Und heute?
Nardini: Die jüngere Generation ist selbstbewusster, ihr sind Werte wie Freiheit, Selbstwirksamkeit und Individualität wichtig, sie kann sich schnell adaptieren, will mitgestalten und legt Wert auf Gleichberechtigung. Da treffen teilweise zwei komplett unterschiedliche Auffassungen von Arbeit aufeinander.
Wie äußert sich dieser Konflikt, oder „Clash“, wie Sie es nennen?
Nardini: In Führungsgremien ist in der Regel wenig Verständnis für die Bedürfnisse der jungen Generation vorhanden. Ich höre immer wieder Sätze wie „Bei uns hat das doch auch funktioniert, warum sollten wir das jetzt anders machen?“ Oder es werden Ziele formuliert wie: „Wir wollen agiler werden.“ Aber Agilität ist das Ergebnis der Art und Weise, wie man zusammenarbeitet, sie kann nicht von oben bestimmt werden.
Viele Unternehmen haben über Jahrzehnte sehr erfolgreich hierarchisch organisiert gearbeitet. Warum sollten sie das ändern?
Nardini: Die Veränderung findet auf jeden Fall statt, aber noch gibt es die Möglichkeit, proaktiv darauf zu reagieren. Der Fachkräftemangel wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung weiter verschärfen. Unternehmen, die junge Arbeitskräfte suchen, müssen ihr Mindset verändern, um für sie attraktiv zu sein. Und es reicht eben nicht, sich ein paar bunte Plakate an die Wand zu kleben und zu sagen: Das sind ab morgen unsere Werte. Das ist klassisches hierarchisches Handeln, das die junge Generation durchschaut. Veränderung ist kein taktisches Vorgehen, es ist das Ergebnis eines Kulturwandels.
Wie können Unternehmen den Prozess angehen?
Nardini: Es geht um eine Verhaltensänderung, aber auch um eine Haltungsänderung. Für den ersten Schritt zum Kulturwandel braucht es eine Orientierung und eine ehrliche Antwort auf die Fragen: Was treibt uns an, was tun wir für die Gemeinschaft und was sind unsere Werte? Es gilt außerdem, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Räume in einem Unternehmen zu schaffen. Die Steuerung und das Operative sind meistens strikt getrennt. Wissen Führungskräfte wirklich, was die Mitarbeiter brauchen, um ihre operativen Fähigkeiten ausüben zu können oder treffen sie Entscheidungen, ohne diese Bedürfnisse zu kennen? Die Mitarbeiter ihrerseits müssen die Übernahme von (Eigen)verantwortung wieder lernen. Dazu benötigen sie einen Rahmen, der es ihnen erlaubt, ihre Bedürfnisse zu erkennen und Selbstwirksamkeit zulässt. Und es gilt wegzukommen von der typisch deutschen Problemorientierung.
Wie meinen Sie das?
Nardini: Ich meine die Haltung: „Ich habe ein Problem, andere sind dafür verantwortlich es zu lösen.“ Zur Übernahme von Verantwortung gehört es auch, aus dieser Haltung rauszukommen und selbst zu überlegen, wie man die Spannung zwischen dem Ist- und dem gewünschten Sollzustand auflösen kann. Jemand macht zum Beispiel zu viele Überstunden. Anstatt zu erwarten, dass die Geschäftsführung das Problem für ihn löst, könnte er sich selbst fragen, woran das liegt, indem er etwa mit Kollegen über das Thema spricht. Wenn es bei anderen super läuft, dann ist vielleicht die eigene Arbeitsweise das Problem. Wenn die anderen dasselbe Thema haben, muss man Prozesse womöglich neu gestalten. Wichtig ist es, dass man Dinge angeht, statt ewig auf die perfekte Lösung zu warten.

Ist das noch so eine deutsche Eigenschaft: Alles muss zu 100 Prozent funktionieren, bevor man sich auf etwas Neues einlässt?
Nardini: Ja, man sucht nach der perfekten Lösung und braucht dann lange Zeit, um sie anzugehen. Stattdessen könnte man überlegen, was der nächste Schritt ist, um der Lösung näherzukommen und von dort dann weiterlaufen.
Sie arbeiten in einem Modellversuch an einem Lösungsmodell für die gravierenden Personalprobleme im Gesundheitswesen.
Nardini: Das Gesundheitssystem fährt gerade gegen die Wand, Mitarbeiter sind unzufrieden und überbelastet, viele verlassen ihren Job, weil das System sie selbst krank macht. Mit dem Projekt „Meine Station“ versuchen wir, das zu verändern.
Wie?
Nardini: Wir sind dabei, am Klinikum Aschaffenburg eine chirurgische Station aufzubauen, die von den Mitarbeitern im Zusammenarbeitsmodell der Selbstorganisation betrieben wird. Am Anfang stellten sich die Mitarbeiter die Frage: Wie wollen wir, dass Patienten bei uns behandelt werden? Aufbauend darauf haben sie Strukturen und Prozesse selbst festgelegt. Anfang 2023 soll die Station an den Start gehen und bislang ist die Resonanz überwältigend. Wir haben mehr als 30 neue Mitarbeiter gefunden, die diese Arbeitsweise im Krankenhaus mitgestalten wollen. „Meine Station“ ist ein Versuch und ein erster Schritt, das notleidende Gesundheitssystem zu revolutionieren. Wenn uns das gelänge, wäre das ein echter gesellschaftlicher Beitrag.
Zur Person
Die Betriebswirtin Nadja Nardini (35) hat als Unternehmensberaterin gearbeitet. Inzwischen ist sie Beraterin und Coach für Organisationsentwicklung und selbstorganisiertes Arbeiten.
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