Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ Marianne, das süße Wiener Mädel, widersetzt sich dem Papa und läuft der arrangierten Verlobung mit dem Fleischhauer Oskar davon. Sie verliebt sich in Alfred, bekommt ein Kind von dem Kleinganoven und Hallodri, der zum Vater nicht taugt. Und wird Nackttänzerin in einem Nachtclub. Als ihr Vater und Nachbarn Marianne dort entdecken, wird sie endgültig verstoßen.
Ein ganz eigener Kunstdialekt
Wie in all seinen Dramen leben die Frauenfiguren Ödön von Horváths in den „Geschichten aus dem Wienerwald“ in scheußlichen Abhängigkeiten. Marianne kämpft dagegen, aber den Ort gibt es nicht, an dem sie mit ihrem unehelichen Kind ein Auskommen findet. Nicht von ungefähr gilt das Stück als Schlüsselwerk der modernen Dramatik.
„Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist das bekannteste Theaterstück des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth (1901- 1938). 1931 in Berlin uraufgeführt, ist der zeitlose Bühnenklassiker bis heute mehrfach verfilmt. Noch vor der Uraufführung erhielt Horváth auf Vorschlag Carl Zuckmayers dafür den Kleist-Preis. Für den Titel stand der Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ von Johann Strauss (Sohn) Pate.
Demaskierung als Programm: Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise entlarvt Horváth lakonisch die volkstümlichen Klischees. Schnell wird die Wiener Gemütlichkeit unheimlich ungemütlich. „Ein Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“ hat Erich Kästner das Stück genannt, das Christian Doll nun für das Neue Globe in Schwäbisch Hall inszeniert. „Eine existenzielle Geschichte trotz allem leicht erzählen, das gelingt nur Horváth“, findet der Intendant der Freilichtspiele. Doll gefällt Horváths pointierte Sprache, eine ganz eigene Form von Kunstdialekt, der den Alltag sogenannter kleiner Leute schildert. „Das provoziert Komik, aber auch eine große Schärfe. In einem Satz schafft Horváth drei Wendungen.“
Warum Christian Doll „Geschichten aus dem Wiener Wald“ im Globe inszeniert und nicht für die Treppe? Dahinter steht die Idee, das Globe als Ort für modernes Volkstheater zu bespielen. Im Sinne von zeitkritisch, nicht heimattümelnd.
Horváths Drama ist „großartiges Schauspielertheater“, sagt Doll. Das heißt, eine „Lust für Schauspieler“, weiß der Regisseur, der selbst aus dem Spiel kommt und „schon lange um Horváth kreist“. Das Stück, das in den 30er Jahren spielt und von den Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft erzählt, zeigt, „wie Figuren in ihren Meinungsblasen leben, aus denen sie nicht herauskommen“. „Das ist existenziell, nicht nur im ökonomischen Sinn, sondern beziehungstechnisch und birgt Missverständnisse und Verletzungen.“ Hier verortet Doll die Bezüge zu unserer Gegenwart und zu der Frage, wie wir es schaffen, uns in Beziehung zu setzen.
Eine starke Mitspielerin ist die Musik. Zum 3/4-Takt hat Karin Eckstein, eine Virtuosin auf dem wechseltönigen Bandoneon, ein Arrangement im 6/8-Takt geschaffen mit Tangoelementen, um das Stück aus der Wiener Nostalgie herauszuholen.
Information
Geschichten aus dem Wiener Wald
Musik, Tanz, Shakespeare
Wiederaufnahmen Globe
Von Christoph Feil
Eine musikalische Hommage an Adriano Celentano, ein tänzerischer Kommentar zur Lage in Zeiten der Pandemie, ein komödiantischer Besuch in einer Seniorenresidenz für gealterte Stars der Freilichtspiele Schwäbisch Hall: Eine ganze Reihe von Wiederaufnahmen im Neuen Globe stehen auf dem Programm der aktuellen Saison.
Den Anfang macht ab 23. Juni „All das Schöne“ von Duncan Macmillan und Jonny Donahoe, eine monologische Auseinandersetzung mit dem Thema Depression. Als Reaktion auf den Selbstmordversuch seiner Mutter schreibt ein Junge eine Liste mit Dingen, für die es sich zu leben lohnt. Dirk Weiler spielt, Franz Burkhard führt Regie.
„Fear.less“, also: furchtlos, heißt das Tanztheater von Choreographin Johanna Richter. Texte eines während der Pandemie entstandenen, kollektiven Tagebuchs aufgreifend, erzeugt das Ensemble auf der Bühne Bilder von Nähe und Distanz. Wiederaufnahme-Premiere: 6. Juli.
Chansons, Schlager, Operette und mehr: In „Bühnenschwestern“, einem Musical von Tom van Hasselt, inszeniert von Brian Bell, rekapitulieren die beiden Zwillingsschwestern Kira und Luna ab 20. Juli ihre Familien- sowie die deutsche Theatergeschichte – und geben dabei musikalisch einiges zum Besten.
„Ewig Jung“: Wer wäre das nicht gern? In der musikalischen Komödie von Erik Gedeon unter der Leitung von Thomas Goritzki (Regie) und Stephan Kraus (Musik) schwelgen ehemalige Stars der Freilichtspiele ab 30. Juli erneut in Erinnerungen.
William Shakespeares „Was ihr wollt“, die vermutlich erste Komödie, die 1601 im Londoner Globe gespielt wurde, eröffnete 2019 das Neue Haller Globe. Christian Dolls Inszenierung des Verwechslungsspaßes ist wieder ab 11. August zu sehen.
Julia Friede, Dominik Dittrich und Max Merker (auch Regie) haben sich eine Romanze zwischen Italien und Deutschland ausgedacht. Mit Hits von Adriano Celentano haben sie sie angereichert und mit Anspielungen auf seine Filme verknüpft. Ab 30. August: der nostalgische Musikabend „Für immer Azzurro!“.