Wie das 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1955 zur schwarzen Stunde des Motorsports wurde
Beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans sterben 1955 84 Menschen. Nun jährt sich die Katastrophe zum 70. Mal und Mercedes feiert eine Rückkehr auf die legendäre Strecke im Nordwesten Frankreichs.

Zum 93. Mal schaut die Welt des Motorsports an diesem Wochenende (14./15. Juni) nach Le Mans, auf eine 150 000-Einwohner-Stadt im Nordwesten Frankreichs. Das 24-Stunden-Rennen ist eine der mythischen, traditionsreichen Veranstaltungen. Aber Le Mans ist auch die Stätte der größten Katastrophe in der Geschichte des Motorsports. Vor 70 Jahren starben auf dem "Circuit des 24 Heures" 84 Menschen.
Vier Sekunden. Nicht länger dauerte der Unfallhergang am 11. Juni 1955 um 18.26 Uhr. Vier Sekunden, die das Leben von 84 Menschen auslöschten; 120 wurden schwer verletzt, Hunderte traumatisiert. Vier Sekunden, die mehr waren als die Verkettung unglücklicher Umstände. Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1955 wurde zu einer schwarzen Stunde des Motorsports.
Draufgänger, Profis und Gentlemen im Kampf um Spitzenplätze
Das Rennen war nach seiner Premiere 1923 zu einer Attraktion geworden. Ihre Helden waren die Männer in den Rennautos: todesmutige Draufgänger, eiskalte Profis oder lässige Gentlemen mit einem Faible für den Rausch der Geschwindigkeit. So einer war auch Pierre Boullin, ein Juwelier aus Paris. Ein ebenso begabter wie leidenschaftlicher Hobbyfahrer, der unter dem Pseudonym Pierre Levegh geschätzt wurde.
In Le Mans startete er an jenem Tag als Werksfahrer für Mercedes. Der Franzose fuhr einen der drei neuen Silberpfeile vom Typ 300 SLR. Es war sein Rennwagen, der kurz vor dem Ende der 35. Runde wie eine Rakete in die dicht besetzte Haupttribüne schleuderte. Aber war es auch seine Schuld? Levegh war einer von vier Akteuren, die an der Katastrophe beteiligt waren.
Brennende Wrackteile als tödliche Geschosse
Der erste war der britische Jaguar-Pilot Mike Hawthorn, der den überrundeten Lance Macklin überholte und dann scharf abbremste, um in die Boxengasse einzuscheren. Sein Manöver löste bei Macklin den Reflex zum Ausweichen nach links aus, doch auf dieser Spur raste mit etwa 240 Stundenkilometern Levegh heran - die Kollision war nicht zu verhindern.

Der Austin Healey wurde für den heranrasenden Silberpfeil zu einer Rampe, die das Auto in die Höhe schießen ließ. Beim Aufprall auf dem Erdwall, der die Zuschauer schützen sollte, zerplatzte der Rennwagen, der Tank explodierte und die brennenden Wrackteile fegten als scharfkantige Feuerplatten in die Menschenmenge, der herausgerissene Motorblock trieb eine tödliche Schneise in die dicht gedrängte Zuschauermasse.
Neue Deutsche Wochenschau verzichtet auf Schockbilder
Levegh starb beim Aufprall. Unmittelbar vor dem Zusammenstoß hatte er den hinter ihm fahrenden Kollegen mit einem Handzeichen gewarnt. Es war der legendäre Champion Juan Manuel Fangio, der seinen Silberpfeil so gerade noch etwas abbremsen und dem Desaster ausweichen konnte. "Levegh hat mir das Leben gerettet", sagte er später.
Die meisten der 83 Zuschauer, die ums Leben kamen, starben noch an der Strecke. Sicherheitskräfte, Sanitäter, Streckenposten und unverletzte Zuschauer halfen unter Lebensgefahr, Priester gaben Sterbenden die letzte Ölung und kümmerten sich um die schockgezeichneten Überlebenden. Die Bilder waren so schlimm, dass die Redakteure der Neuen Deutschen Wochenschau den größten Teil dieser schockierenden Dokumente dem Publikum vorenthielten.
Fortsetzung des Rennens als Chaos-Prävention
Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer erreichte die Zentrale in Untertürkheim erst um halb zwei in der Nacht. Die Anweisung war kurz und klar: Rückzug aus dem Rennen, aus Respekt vor den Opfern und aus Rücksicht auf die Fahrer. Mit der orangefarbenen Flagge - das interne Signal für einen sofortigen Stopp - wurden die Silberpfeile von Fangio und Karl Kling mit ihren Co-Piloten Stirling Moss und André Simon aus dem Rennen gewunken. Auch andere Teams stiegen aus der makabren Szenerie aus.

Nur ein paar Runden später und erst recht in der Endphase des Rennens suchten Zuschauer auf dem Wall der zerstörten Tribüne Plätze mit der besten Sicht; sie stiegen dafür auf blutverschmiertem Boden über die Trümmer. Das Rennen, so erklärte es der 80 Jahre alte Le-Mans-Rennleiter Charles Faroux später, wurde fortgesetzt, um einen plötzlichen Aufbruch der 250.000 Zuschauer und damit ein Chaos zu verhindern, das die Rettungsmaßnahmen erschwert hätte.
Rennunfall bleibt für die Fahrer folgenlos
Es siegte der Mann, dessen riskantes Manöver das Unglück ausgelöst hatte. Der Engländer Mike Hawthorn überquerte mit dem Jaguar-D-Type nach 4135,38 Kilometern die Ziellinie.
Eine Untersuchungskommission stufte die Katastrophe als "reinen Rennunfall" ein - was eine Entlastung der beteiligten Fahrer und Rennställe war. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, doch es kam nicht zu einem Gerichtsverfahren. Immerhin führte das Unglück dazu, dass die Sicherheitsvorkehrungen weltweit massiv erhöht wurden.
Rückkehr von Mercedes nach Le Mans nach 26 Jahren
Für Mercedes-Benz endete die Saison 1955 mit dem größtmöglichen Erfolg - und dem Ausstieg aus dem Motorsport: Nach dem Gewinn der Sportwagen-WM und Juan Manuel Fangios Triumph in der Formel 1 zog sich das Unternehmen zurück. Doch Le Mans war nicht der Anlass, sondern höchstens die letzte Bestätigung für eine Entscheidung, die das Unternehmen Monate zuvor gefasst hatte und die 30 Jahre bestand.
Am Wochenende wird die Erinnerung nicht nur durch den 70. Jahrestag der Katastrophe stimuliert, sondern auch durch den ersten Start von Mercedes-Rennwagen seit 26 Jahren auf dem berühmten Kurs. In der zweitrangigen GT3-Klasse fahren zwei AMG GT3 im Silberpfeil-Design für das Team Iron Lynx.