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"Free your Stuff"-Gruppen auf Facebook bringen ein Stück Dorfgemeinschaft zurück

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Die Initiativen schlagen drei Fliegen mit einer Klappe: weniger Müll, weniger Konsum, aber mehr Miteinander. Auch in der Region steht das Ausmisten und Verschenken hoch im Kurs. Wir haben mit den Gründerinnen der Gruppen darüber gesprochen.

von Milva-Katharina Klöppel
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In der "Free your Stuff"-Gruppe Leingarten wurde kürzlich ein Klavier angeboten. Screenshot: Milva-Katharina Klöppel
In der "Free your Stuff"-Gruppe Leingarten wurde kürzlich ein Klavier angeboten. Screenshot: Milva-Katharina Klöppel

Ein Klavier, ein elektrischer Fonduetopf und sechs pinkfarbene Lockenwickler – das Angebot in der Leingartener „Free your Stuff“-Gruppe bei Facebook ist bunt. Vor einem Jahr, am 3. Juni 2020, gründete Nora Sonn die Initiative in dem sozialen Netzwerk. Mittlerweile zählt sie 599 Mitglieder – sie alle geben Dinge kostenlos weiter oder bekommen etwas geschenkt.

„Einmal löste eine Frau ihr Kleingewerbe auf und stellte unzählige Dekosachen und Behälter zum Verschenken ein“, erinnert sich Sonn. Nach einem kurzen Austausch und anschließendem Treffen fuhr die 41-Jährige mit einem vollgepackten Auto wieder nach Hause. „Die Frau war mega dankbar, weil sie die Sachen los hatte, und ich war glücklich, dass die Dinge ein zweites Leben bekommen haben.“

Das Konzept der „Free your Stuff“-Gruppen (zu Deutsch etwa „Befreie dich von deinem Zeug“) stammt angeblich von einem rumänischen Studenten, der in Luxemburg lebte, und dort bereits 2011 die erste Gruppe auf Facebook gründete. Heute gibt es sie in jeder größeren Stadt, und auch die Region Heilbronn-Franken sowie Hohenlohe sind bestens aufgestellt. Eine der größten Gruppen mit rund 58.000 Mitgliedern befindet sich übrigens in Mainz. 


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Alles ist nützlich

Das Online-Auktionshaus Ebay schätzt, dass allein in Deutschlands Schränken ungenutzter Hausrat im Wert von 35,5 Milliarden Euro herumliegt. Foto: stock.adobe.com
Das Online-Auktionshaus Ebay schätzt, dass allein in Deutschlands Schränken ungenutzter Hausrat im Wert von 35,5 Milliarden Euro herumliegt. Foto: stock.adobe.com  Foto: (324846070)

Hinter der Initiative steckt ein verblüffend einfacher Gedanke: Es gibt keine nutzlosen Dinge, nur nützliche am falschen Ort. „Das Deckel-Topf-Prinzip“, wie es die Leingartenerin Nora Sonn nennt. Von diesen Dingen gibt es allerdings eine Menge: Das Online-Auktionshaus Ebay schätzt, dass allein in Deutschlands Schränken ungenutzter Hausrat im Wert von 35,5 Milliarden Euro herumliegt. Das ergibt durchschnittlich 1013 Euro pro Haushalt. Die stellt man nicht einfach an die Straße. Doch für einen Stand auf dem nächsten Flohmarkt fehlt vielen die Zeit. Außerdem hatten Keller- oder Dachbodenaufräumen lange etwa so viel Charme wie die jährliche Steuererklärung. Das Image hat sich in den vergangenen Lockdown-Monaten zwar nicht gebessert, doch aus Langeweile begann der eine oder andere mit dem Entrümpeln.

So war es auch bei der im September 2020 gegründeten „Free your Stuff“-Gruppe in Bad Rappenau. „Die Gruppe ist sehr schnell sehr groß geworden“, sagt Gründerin Sabrina Henke mit Blick auf die heute 564 Mitglieder. Für die 32-Jährige steht fest: „Man kauft schon eh und je Gebrauchtwagen und hat keinen Ekel davor. Warum sollte man dann zum Beispiel Spielzeug, das aus Plastik und desinfizierbar ist, nicht verschenken?“ Weltweit beobachten Konsumforscher und Psychologen eine tiefgreifende Veränderung im Verhalten von Millionen Menschen: Ihnen allen geht es nicht länger darum, Dinge zu besitzen. Sie wollen sie bloß nutzen. Und wenn sie damit fertig sind oder eine Sache gerade nicht brauchen, geben sie sie ab. Vorangetrieben werde die Ökonomie des Tauschens, die unter dem Namen „Sharing Economy“ zusammengefasst wird, als Gegenentwurf zu individuellem Besitz durch das Internet und vor allem durch soziale Netzwerke wie Facebook.


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Ein Stück Dorfgemeinschaft

Nicole Quilitzsch betreut die FYS-Gruppe aus Schwaigern.
Nicole Quilitzsch betreut die FYS-Gruppe aus Schwaigern.  Foto: Berger, Mario

So paradox es auch klingen mag: Die „Free your Stuff“-Ortsgruppen bringen zurück, was durch das Internet in den vergangenen Jahren immer mehr verloren gegangen ist – ein Stück Dorfgemeinschaft. In unserer globalisierten Welt sind viele Strukturen weggefallen, in denen teilen früher selbstverständlich war, etwa die Familie oder Nachbarschaft. „Krass ist, wie viele Kontakte entstehen. Man findet immer wieder Leute, die voll auf einer Wellenlänge mit einem sind“, stellt Nicole Quilitzsch fest, die die Gruppe in Schwaigern betreut. Die Niederhofenerin erinnert sich begeistert an die zahlreichen Gespräche, die sich der Übergabe der Dinge entwickeln. Immer mal wieder bringt auch jemand als Dankeschön eine Süßigkeit oder ein Glas selbstgemachte Marmelade mit.

Eines ist aber ganz wichtig: „Free your Stuff ist keine Tauschbörse“, erklärt Natascha Borst, die die Eppinger Gruppe mit 1167 Mitgliedern betreut. „Man erhält keine Gegenleistung für seine Sachen.“ Anfangs hätten Mitglieder den Wunsch nach beispielsweise zwei Kisten Cola als Dankeschön geäußert, doch da stellt die 31-Jährige fest: „Das ist in unseren Augen kein Verschenken mehr.“ Deshalb gibt es in allen „Free your Stuff“-Gruppen Regeln, die den Administratoren und Moderatoren helfen, für ein harmonisches Miteinander zu sorgen. No-Gos seien auch Anzeigen, die dem Tierwohl schaden, Werbung oder Jobgesuche.

Ein Foto mit dem Smartphone ist schnell gemacht. Foto: Mario Berger
Ein Foto mit dem Smartphone ist schnell gemacht. Foto: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Wenn auch nur kostenlose Anzeigen erlaubt sind, so gibt es zusätzlich die Möglichkeit, ein Gesuch aufzugeben. „Es hat sich wohl herumgesprochen, dass man auch sogenannte Need-Beiträge posten kann“, stellt Nicole Quilitzsch aus Schwaigern vermehrt fest. „Da geht es von Marmeladengläsern über Umzugshelfer – wirklich alles mögliche ist dabei.“ Auch zahlreiche Alleinerziehende seien in der Gruppe vertreten, die „alles mit Kusshand nehmen“ – und bei dem Schenkenden, der helfen kann, für ein gutes Gefühl sorgen.

Nachhaltigkeit ist wichtiges Motiv

Diesen Pfirsichbaum rettet Nicole Quilitzsch vor dem Komposthaufen. In Niederhofen fühlt die Pflanze sich sichtlich wohl. Foto: Mario Berger
Diesen Pfirsichbaum rettet Nicole Quilitzsch vor dem Komposthaufen. In Niederhofen fühlt die Pflanze sich sichtlich wohl. Foto: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Das Prinzip der aktiven Konsumverweigerung ist ein Trend, der sich nicht nur in den „Free your Stuff“-Gruppen (kurz auch „FYS“ genannt) immer deutlicher zeigt. Ähnliche Systeme wie beispielsweise das Car Sharing lassen deutlich erkennen, dass die Menschen in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt immer mehr darauf achten, welche Ressourcen wie eingesetzt werden. Dabei entfaltet das Teilen in den „Free your Stuff“-Gruppen eine doppelte Wirkung: weniger Konsum, weniger Müll. Für Nora Sonn aus Leingarten steht fest: „Die beste Nachhaltigkeit, der beste Minimalismus ist es, die Dinge zu nutzen, die bereits da sind.“

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