Schon gut, Mama. Ich bin jetzt erwachsen
Manche Mütter können ihre Kinder nicht loslassen, obwohl die längst erwachsen sind. Unsere Kollegin hat in ihrer Familie nach Gründen gesucht – und kann ihre Mutter besser verstehen, als sie dachte.

Wann versteht eine Mutter, dass ihre Kinder erwachsen sind? Das frage ich mich mit 27 Jahren, wo ich längst von zu Hause ausgezogen bin, eine Festanstellung mit monatlichem Einkommen habe und eine Beziehung. Es gab nie Probleme mit Lehrern, keine schlechten Noten – abgesehen von der vier in Mathe, keinen Klassenbucheintrag, nichts. Nicht mal einen Alkoholabsturz, geschweige denn eine Party, bei der die Gäste das Haus meiner Eltern zerlegt hätten.
Bis heute ist mein Lebenslauf lückenlos. Trotzdem könnte Mom, wie ich meine Mutter nenne, wesentlich entspannter sein. Warum fällt es ihr so schwer, loszulassen? Ihre kurze Antwort lautet: “Hoffentlich kriegst du auch mal Kinder.” Die längere Antwort besteht aus kleinen Alltagsgeschichten aus den vergangenen 27 Jahren, an die wir uns zum Teil völlig unterschiedlich erinnern, und die gerade deshalb einiges erklären. Dabei geholfen hat mir, was die britische Psychotherapeutin Philippa Perry in ihrem Bestseller unter folgendem Titel schreibt: “Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)” (2020 im Ullstein-Verlag, 304 Seiten, 19,99 Euro).
Vorab soll gesagt sein: Unsere Beziehung ist abgesehen von den gewöhnlichen Höhen und Tiefen schon immer sehr gut, das sehen wir beide so. Wir telefonieren mehrmals die Woche und reden über alles. Trotzdem würde ich Mom nicht als meine Freundin bezeichnen. Sie hört anders zu, gibt andere Ratschläge, ist manchmal emotional und ungehalten. Und obwohl ich eigentlich ein Papa-Kind bin, ist mein Verhältnis zu ihr ein besonderes.
Bei Verletzungen ihrer Kinder kippt Mom um

Die erste Geschichte kenne ich nur von Erzählungen meiner Eltern. Demnach habe ich mir an einem Samstagmorgen beim Zähneputzen eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Vom Hocker vor dem Waschbecken war es möglich, mit einem für Kinderbeine großen Schritt nach links auf den Rand der Duschwanne zu steigen und wieder zurück auf den Hocker – sofern dieser nicht wegrutschte, das Kind abstürzte und mit dem Hinterkopf an den Rand der Duschwanne knallte. Meine Mutter war zu der Zeit mit meinem Bruder schwanger, ich war also fünf, und schrie wie am Spieß. “Ich wollte dich trösten, aber als ich das Blut in meiner Hand gesehen habe, bin ich umgekippt”, erinnert sie sich.
Das sei immer so gewesen. Sobald wir Kinder verletzt waren und geblutet haben, musste mein Vater einspringen, weil Moms Kreislauf drohte zu kollabieren. Selbstverständlich ist es bis heute nicht bei dieser einen Platzwunde geblieben. Auch vom Kopf meines Bruders ist Blut geflossen. Einmal, als er beim Spielen mit Freunden von einem Stein getroffen wurde und später, als Papa ihn versehentlich mit dem Kofferraumdeckel erwischt hat. Heute können wir alle darüber lachen, nur Mom wird ziemlich schnell wieder ernst, wenn sie erzählt, wie hilflos sie sich als Mutter gefühlt hat, wenn ihre Kinder Schmerzen hatten und sie nichts tun konnte, um sie zu lindern.
In den meisten Fällen wusste sie, was zu tun war. Weder mein Bruder noch ich können zählen, wie oft sie uns gesund gepflegt hat. Bei “Ohrenweh” gab’s Zwiebelsäckle, bei Fieber Wadenwickel, gegen Halsschmerzen Wickel mit Schweineschmalz – genau wie früher bei Oma. Noch nicht mal Tee hätten wir uns selbst kochen müssen. Alles machte Mom für uns. Immer.
Eine Mutter gibt immer ihr Bestes, macht aber auch mal Fehler
Zu wissen, dass sie für mich da ist, gibt mir auch heute noch Halt. Und ich bin froh, dass sie es nicht bereut, ihren Traum von der Selbstständigkeit mit einem Modegeschäft für mich aufgegeben zu haben. Mit einem schreienden Baby Klamotten zu verkaufen und Nähkurse zu geben, wäre nicht lange gut gegangen, meint sie. Von diesem Zeitpunkt an war sie nach klassischer Rollenverteilung “Vollzeit-Mutter“. Ein Modell, das sich viele Familien finanziell gar nicht leisten können. Für entscheidender als die Frage der Rollenverteilung halte ich als Kind eine anderen Punkt, den Philippa Perry im Buch so beschreibt: “Ein Kind wird sicher lieber glückliche Eltern haben wollen als unglückliche und gequälte, und deshalb würde ich niemals sagen, dass ein Elternteil zu Hause bleiben muss.”
Dass sich Mom dafür entschieden hat, Vollzeit Fürsorgearbeit für unsere Familie zu leisten, hat meine Beziehung zu ihr beeinflusst. Während mein Vater bei der Arbeit war und oft spät nach Hause kam, hat Mom meine Launen ausgehalten, mir bei Hausaufgaben geholfen und Hobbys ermöglicht. Es gab auch Grenzen, Dinge, die ich nicht durfte – und inzwischen weiß ich, dass einige ihrer Verbote nicht dazu da waren, mir das Leben schwer zu machen oder um mich zu ärgern, sondern dass sie viel mit Moms Gefühlslage zu tun hatten. Auch heute noch macht sie sich manchmal große Sorgen, die sie am Loslassen hindern, obwohl sie weiß, dass sie genau das tun sollte. Vermutlich wären uns einige Streitereien erspart geblieben, wenn sie sich öfter erklärt hätte.
Als Kind tut es gut, sich daran zu erinnern, dass die Mutter immer ihr Bestes gegeben hat. Fehler machen wir alle, Kinder und Eltern. Was laut Philippa Perry zählt, ist, Fehler einzugestehen, sich dafür zu entschuldigen und den entstandenen Bruch in der Beziehung wieder zu reparieren.
Beim Essen hört der Spaß auf
Manche Themen sind aber so heikel, dass man als Kind lieber gleich die eigenen Überzeugungen über Bord wirft und die Mutter machen lässt. In meiner Familie ist das Essen so ein Thema. Es vergeht kein Besuch bei meinen Eltern, der nicht aussieht, als hätte ich einen Großeinkauf gemacht. “Nimmst du ein Päckchen Eier mit? Die sind ganz frisch”, fängt sie meistens an. “Und ich hätte wunderschönen Salat im Garten, soll ich dir einen weg machen?” An dieser Stelle ist sie schon auf den Weg ins Gemüsebeet. Die letzte Möglichkeit, ihr hinterher zu rufen: “Aber bitte nicht den größten Salat und wirklich nur einen. Das können wir sonst gar nicht alles essen.” Wenig später hat sie nicht nur Salat in einen Korb geladen, sondern auch “wunderschönen Spinat mit ganz zarten Blättchen, viel besser als der gekaufte” und “Kohlrabi, den muss man jetzt essen, solange er noch nicht holzig ist”. Widerrede zwecklos.

Ein Korb voll frischem Gemüse ist aber noch vergleichsweise einfach zu bewältigen. Schwieriger wird der Umgang mit der Tatsache, dass mein Freund Vegetarier ist (zum Glück nicht Veganer). Das stellt Mom vor mehrere Herausforderungen. Erstens fühlt sie sich verpflichtet, neben dem Rinderbraten mit Spätzle, Soße und Salat eine vegetarische Alternative anzubieten. Darüber zerbricht sie sich den Kopf, weil “der Bub” natürlich auch als Vegetarier “was Gscheit’s” bei ihr zu essen bekommen soll. Zweitens muss sie sich bei Telefonaten mit mir regelmäßig auf die Zunge zu beißen, um nicht zu jedes Mal zu fragen, ob ich auch mal wieder Fleisch gegessen habe. Nur logisch, dass es seither erst recht Rinderbraten gibt, wenn ich alleine zu meinen Eltern fahre.
Auch über die Ernährungsgewohnheiten meines Bruder macht sie sich dauerhaft Gedanken. Nachdem er vor gut einem Jahr von zu Hause ausgezogen ist und seither allein in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit winziger Küchenzeile wohnt, lobt er Moms Essen sogar, wenn es den früher von ihm verhassten Spinat gibt. Für Mom ist diese Entwicklung nur auf den ersten Blick schmeichelhaft, denn immer, wenn er zurück in der Heimat ist, ist sie überzeugt, er habe abgenommen. “Das kommt davon, wenn man sich von Kaffee und Zigaretten ernährt”, tadelt sie dann. Und wenn er Tage später wieder in den Zug steigt, befinden sich mehrere Portionen Kässpätzle in seinem Koffer.
Sind die Kinder nachts unterwegs, kann sie nicht schlafen
Es ist Sonntagnachmittag, als ich mit Mom am Telefon ein paar prägende Mama-Momente aufarbeite – Momente aus der Zeit, in der mein Bruder und ich noch zu Hause gewohnt haben. Das Schlimmste sei immer für sie gewesen, zu warten, bis wir nachts daheim waren. Es war ihr egal, wie spät es wurde, aber wir mussten uns zurückmelden, die Schlafzimmertür öffnen und flüstern “Ich bin wieder da” reichte.
Nur nicht in der Nacht nach meinen schriftlichen Abi-Prüfungen, da war sie stinksauer. Lange hatte ich gedacht, sie wollte mir den Partyspaß nicht gönnen. Ich war mit einer Freundin mit der Bahn zum Feiern nach Karlsruhe gefahren und mit dem ersten Zug am nächsten Morgen zurück, kurz duschen und mit der Bahn direkt weiter zur Schule – mit Kopfweh und einem schlechten Gewissen. Bis zu unserem Telefonat für diesen Artikel dachte ich, Mom hat mir die Aktion übel genommen, weil die mündliche Abi-Prüfung noch bevorstand und das Abi deshalb noch nicht ganz geschafft war. Der eigentliche Grund, warum sie damals tagelang kein Wort mit mir geredet hat, war aber wohl ein anderer, wie sie heute sagt: “Ich war sauer, weil du dich zwischendurch nicht mal kurz gemeldet hast und ich nicht wusste, wann du heimkommst.” Da habe sie kaum geschlafen.
In meiner Erinnerung war das übliche “Aber um 12 bist du wieder daheim” nichts als ein Machtspiel, das dazu diente, dem Teenager zu zeigen, wer am längeren Hebel sitzt (immer die Eltern). Jedenfalls waren diese Auseinandersetzungen nicht mit meinem 18. Geburtstag vom Tisch, sondern erst später, als sie sich daran gewöhnt hatte, dass ich die Wochenenden bei meinem Freund in der WG verbringe und sie nicht mehr so genau auf dem Schirm hatte, wann gelernt und wie lange gefeiert wurde. In dieser Zeit hatten wir uns darauf geeinigt, dass ich dafür verantwortlich bin, die richtige Balance zu finden, und ich pampte sie mit einem genervten “Jaaa, Mama” an, wenn sie sich am Telefon wieder nicht verkneifen konnte, zu sagen: “Fürs Studium solltest du halt auch noch was tun.”
Wenn’s nur die Frisur wäre …

Wenn wir Jahre später mit Abstand auf die Dinge blicken, verstehe ich Mom sogar ein bisschen. Und wenn sich mein kleiner Bruder am Telefon darüber aufregt, dass sie sich 350 Kilometer entfernt leidenschaftlich über seine auf sechs Millimeter rasierten Haare echauffiert, sage ich zuerst ihm, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass wirklich die Frisur das Problem ist, und später frage ich Mom am Telefon, ob sie sich tatsächlich über den rasierten Kopf aufregt. Natürlich geht es eigentlich nicht um seine Frisur.
Was er als Kontrollzwang ihrerseits wahrnimmt, beschreibt Mom so: “Das hat mit Überwachung nichts zu tun. Ich mach’ mir Gedanken, weil ich nicht hinsehen kann und ich will, dass er einen guten Weg geht und nicht abdriftet.” Wenn Oma noch leben würde, würde ich sie fragen, ob sie damals auch Angst hatte, Mom könnte auf die schiefe Bahn geraten, weil sie in ihren wilden Zeiten eine Kurzhaarfrisur mit sieben verschiedenen Rottönen auf einmal trug.
Psychotherapeutin Perry würde Mom raten, besser keine Staatsaffäre aus dieser Frisuren-Diskussion zu machen und zu akzeptieren, dass ihr Sohn mit Anfang 20 in einer neuen Umgebung mit neuen Leuten neue Identitätsmerkmale entwickelt, die seinen Charakter formen und ihm dabei helfen, seinen Platz im Leben zu finden. Die Erfahrung zeigt, dass er anruft, wenn er Unterstützung braucht. Und zu wissen, dass Mom dann interessiert zuhören wird und bei Bedarf einen Rat geben kann, ist für ein erwachsenes Kind die größte Hilfe.
Dann legen wir auf, weil sie mit Papa in der Sauna verabredet ist. In meinem früheren Kinderzimmer. Als ich zum ersten Mal von den Sauna-Plänen hörte, war ich vollkommen perplex. Dass sie in mein Kinderzimmer eine Sauna einbauen wollten, weil ich ja “eh nur noch zu Besuch” nach Hause komme, hat sich endgültiger für mich angefühlt als der eigentliche Auszug. Mein Bruder reagierte ähnlich fassungslos, als sie ihm sagten, sie würden seine alten Kinderzimmer-Möbel weggeben. Bisher stehen sie noch – aber nur, weil sie bei ebay Kleinanzeigen keiner haben wollte. Wieder zu Hause einziehen kommt aber auch für niemanden von uns in Frage. Für Mom übrigens auch nicht. Sie ist froh, dass die Kinder aus dem Haus sind, und genießt die Zweisamkeit mit Papa. Außerdem haben sie einen Hund, der ist ihr Ersatzkind.
Bevor wir auflegen, sagt Mom: “Aber wehe, du verschweigst im Artikel, dass trotzdem immer ein Bett fertig für euch bezogen ist.”
Das stimmt.