"Der Präsenzunterricht sollte weiterlaufen"
Wenn es irgendwie geht, sollte der Präsenzunterricht weiterlaufen, findet der Heilbronner Kinderarzt Hans Ulrich Stechele. Der Mediziner betreibt auch eine Corona-Schwerpunktpraxis. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Kindern in der Pandemie.

Der Heilbronner Kinderarzt Hans Ulrich Stechele spricht sich gegen Schulschließungen oder Hybridunterricht aus. Er fürchtet, dass dadurch gerade sozial benachteiligte Kinder erneut zurückgeworfen würden. In seiner Corona-Schwerpunktpraxis hat er die Erfahrung gemacht, dass Infektionsketten unter Kindern extrem selten sind.
Über die Rolle von Kindern in der Pandemie ist viel diskutiert worden. Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer Praxis?
Hans Ulrich Stechele: Wir sind auch Corona-Schwerpunktpraxis. Das heißt, wir machen im Moment viele Abstriche bei Schulklassen, in denen ein Kind positiv ist. Seit 1. Oktober haben wir etwa 650 Abstriche gemacht, davon waren 4,5 Prozent positiv, also etwa 30 Fälle. Was auffällig ist: Nur extrem selten findet sich eine Infektionskette unter den Kindern. Es ist fast immer ein Erwachsener involviert. Entweder ist ein Lehrer Indexpatient oder ein erwachsenes Familienmitglied.
Was schließen Sie daraus?
Stechele: So wie ich das verfolgt habe, entspricht das dem allgemeinen Bild. Ich schließe daraus, dass es keine richtig starken Verbreitungen in der Schule gibt – das gilt auch für den Kindergartenbereich. Und das finde ich ziemlich ermutigend.
Das würde auch dafür sprechen, die Schulen geöffnet zu halten.
Stechele: Ja, das spricht dafür. Ich finde das Pandemie-Management, das die Schulen gerade betreiben, okay und habe nicht den Eindruck, dass sich die Situation wesentlich verschlechtert. Womit ich dagegen ein Problem habe, ist die doch etwas krude Quarantäne-Regelung für Kinder, die Kontaktpersonen sind.
Wie meinen Sie das?
Stechele: Wenn Kinder als Kontaktpersonen identifiziert werden, werden sie zweimal getestet und unabhängig vom Ergebnis 14 Tage in Quarantäne geschickt, wobei sie sich auch von ihrer Familie isolieren sollen. Und das, obwohl die meisten keine Symptome haben. Sie dürfen nicht mal im Park spazieren oder mit dem Fahrrad fahren. Es stößt mir auf, dass ein Kind zwei Wochen weggesperrt wird, obwohl es mit einer extrem hohen Wahrscheinlichkeit kein Corona hat. Ich finde, da muss nachgebessert werden. Man muss sich mal vorstellen, dass es manche Kinder drei- bis viermal in diesem Winter treffen kann.
Wie verfolgen Sie die Diskussion über Klassenteilungen oder hybriden Unterricht?
Stechele: Das kann ich eher aus Elternsicht beurteilen, weil ich vier schulpflichtige Kinder zu Hause habe. Ein hybrider Unterricht mit geteilten Klassen ist sicherlich besser als gar kein Präsenzunterricht. Aber ich stelle mir das in der Umsetzung wahnsinnig schwierig vor. Wie soll ein Lehrer gleichzeitig eine Präsenzklasse und Schüler zu Hause adäquat unterrichten? Nach meiner Erfahrung ist die technische Ausstattung in vielen Familien auch immer noch nicht ausreichend.
Zur Person
Hans Ulrich Stechele (48) ist niedergelassener Kinderarzt in Heilbronn und Sprecher der Kinderärzte im Stadt- und Landkreis.
Ist das ein klares Plädoyer für den Präsenzunterricht?
Stechele: Ja! Der digitale Unterricht ist aus meiner Sicht nur die zweitbeste Variante. Wenn es irgendwie geht, sollte der Präsenzunterricht weiterlaufen. Gerade sozial benachteiligte Schüler würde sonst weiter zurückgeworfen. Sie brauchen den integrativen Raum Schule, um Kontakt mit anderen Schülern und der deutschen Sprache zu haben – und es geht auch um scheinbar banale Sachen wie das Schulmittagessen. Im Kindergarten ist das genau dasselbe. Ich habe einige Kinder in meiner Praxis, die in den Wochen des Lockdowns im Frühjahr die deutsche Sprache komplett verlernt haben.
Stichwort Bewegung. Vereinssport und teilweise auch der Schulsport sind gestrichen. Wie beurteilen Sie das?
Stechele: Es gibt so viele Eltern, auf die ich ewig einwirken muss, weil die Kinder übergewichtig sind. Für manche ist die Anmeldung beim Sportverein schon eine Riesenhürde. Jetzt können wir eigentlich nur noch mit den Schultern zucken – tja, ist halt kein Angebot mehr da, bewegen sich die Kinder eben nicht. Das ist frustrierend für uns als Ärzte und ein großes gesundheitliches Problem für die Kinder. Und aus der Kenntnis dessen, was infektiologisch an Schulen passiert, halte ich es für übertrieben, den Sportunterricht komplett zu streichen.
Was schlagen Sie vor?
Stechele: Es gibt so viele Möglichkeiten, Kinder auch in diesen Zeiten in Bewegung zu bringen. Klar, Kontaktsportarten sind gerade nicht möglich. Aber Einzelsportarten im Freien schon – wir hatten jetzt wochenlang schönes Wetter. Da sollte es doch mit etwas Kreativität möglich sein, Lösungen zu finden. Einfach absagen, davon halte ich nichts.
Thema Corona-Impfstoff: Ist schon bekannt, ob es für Kinder eine Impfempfehlung gibt?
Stechele: Ich kenne auch nur die bisher bekannten offiziellen Empfehlungen, wonach Risikopatienten und Krankenhauspersonal zuerst drankommen sollen. Kinder tauchen da gar nicht auf, was aber auch nicht wirklich verwunderlich ist, weil es unter Kindern nur einen minimalen Anteil von schwer Erkrankten gibt.
Demnach würden Kinder ziemlich am Ende der Impf-Kaskade stehen.
Stechele: Ja, vermutlich werden sie erst in eine generelle Impfempfehlung für die Bevölkerung aufgenommen. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen glaube ich auch nicht, dass wir viel gewinnen würden, wenn wir alle Kinder schnell impfen würden.