Stimme+
Region
Lesezeichen setzen Merken

Arbeitgebervertreter und Gewerkschafter vereint in der Sorge um Arbeitsplätze

   | 
Lesezeit  6 Min
Erfolgreich kopiert!

Südwestmetall-Geschäftsführer Jörg Ernstberger und der Erste Bevollmächtigte der IG Metall, Michael Unser, erläutern im Interview, wie ernst die Situation für viele Autozulieferer ist. "Jetzt ist die entscheidende Frage: Wie viele Mitarbeiter brauche ich in Zukunft?"

   | 
Lesezeit  6 Min

Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter begleiten derzeit mehrere Autozulieferfirmen im Raum Heilbronn. Es geht um Neuausrichtung, um Arbeitsplatzabbau, um die Abfederung der größten Härten. Wir haben mit Michael Unser, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Heilbronn-Neckarsulm, und Jörg Ernstberger, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands Südwestmetall, über die aktuelle Situation gesprochen. 

Die Wirtschaft hat einen Corona-Schock erlebt. Kurzarbeit hat einiges aufgefangen, die Konjunktur erholt sich. Warum machen Sie sich trotzdem Sorgen um die Autoindustrie, Herr Unser?

Michael Unser: Die Einschläge kommen näher. Ein großer Hersteller wie Audi kann eine Delle hoffentlich kompensieren, doch auch dort werden Stellen abgebaut, immerhin sozialverträglich. Doch die Zulieferindustrie konnte schon in den vergangenen Jahren nicht die Gewinne erwirtschaften, um die anstehende Transformation aktiv anzugehen. Das wird nun noch schwieriger und ist kurzfristig nicht zu schaffen. Sie müssen sich jetzt für die nächsten fünf bis zehn Jahre neu ausrichten, in neue Produktion, neue Produkte, Qualifizierung investieren. Und der Markt muss das auch annehmen. Wenn wir da keinen Übergang hinbekommen, auch mithilfe der Verbrennertechnik, werden viele Unternehmen auf der Strecke bleiben.

 

Wie viele Arbeitsplätze sind jetzt in Gefahr?

Jörg Ernstberger: In der Automobil- und Automobilzuliefererindustrie der Region hängen derzeit noch 90 Prozent der Arbeitsplätz am Verbrenner. Es geht auf jeden Fall um mehrere hundert Arbeitsplätze.

Unser: Wir gehen davon aus, dass bis nächstes Jahr 3500 Stellen im Raum Heilbronn abgebaut werden könnten. Audi ist da mitberücksichtigt, Leiharbeiter und weggefallene Ausbildungsplätze kommen aber noch obendrauf. Wir haben rund 18 Prozent weniger Azubis.

 

Das ist viel, und doch erscheint die Zahl nicht hoch, wenn Sie sagen, dass 90 Prozent der Arbeitsplätze bei Zulieferern am Verbrenner hängen. Zumal die Digitalisierung ansteht, sowohl beim Produkt als auch in der Produktion und den vorgelagerten Bereichen. Und das autonome Fahren bleibt eine weitere Herausforderung, die ansteht.

Ernstberger: 3500 Mitarbeiter und ihre Familien, das ist schon ein Wort. Und das betrifft nur den Stadt- und Landkreis Heilbronn. Die Dunkelziffer wird jedoch höher sein, da nicht jedes Unternehmen Mitglied im Arbeitgeberverband ist. In Hohenlohe und Main-Tauber sieht es bis auf einzelne Ausnahmen etwas besser aus. Trotzdem ist mir wichtig, noch einmal zu betonen, dass wir uns keinesfalls schon erholt haben, sondern es haben sich allenfalls die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet. Wenn wir den Auftragseingang in den ersten sieben Monaten 2020 mit dem Jahr zuvor vergleichen, dann ist die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg bei minus 14,9 Prozent. Der Fahrzeugbau ist bei minus 18,4 Prozent. Wenn wir eine zweite Welle bei den Corona-Infektionen bekommen, wird es übel aussehen. Viele Entscheidungen werden derzeit sehr kurzfristig getroffen werden müssen.

 

Jörg Ernstberger. Foto: Mario Berger
Jörg Ernstberger. Foto: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Sollte die Kurzarbeit Entlassungen nicht noch wirksamer verhindern?

Ernstberger: Keine Firma lässt die Mitarbeiter leichtfertig gehen. Das war ja auch unsere Stärke 2008/2009, dass die Leute an Bord geblieben sind. Deshalb sind wir gut aus der Krise herausgekommen. Jetzt ist die entscheidende Frage im Rahmen der Transformation: Wie viele Mitarbeiter brauche ich in Zukunft?

 

Die Herausforderungen der Transformation sind doch aber schon seit Jahren bekannt. Glauben Sie nicht, dass die Zulieferer hier zu spät umgesteuert haben?

Unser: Die Zulieferer haben es nicht verschlafen. Aber die Hersteller. Der Zulieferer kann immer erst dann aktiv werden, wenn er weiß, wohin der Hersteller will. Es war ja lange nicht klar, ob die Batterie, der Hybrid, ein optimierter Verbrenner oder die Brennstoffzelle das Rennen macht. Da hat die Klarheit gefehlt, und sie fehlt teilweise bis jetzt. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, wie es mit den synthetischen Kraftstoffen weitergeht. Da ist die Politik gefragt.

Ernstberger: Man muss ja auch fragen, welche Infrastruktur habe ich für die Transformation. Allein beim Breitband-Internet ist Deutschland weit hinterher. Ähnlich sieht es bei den Ladesäulen für die E-Mobilität aus. Vieles kommt jetzt, aber es dauert. Zum zweiten war Corona nicht absehbar, wirkt aber als Brandbeschleuniger in der Entwicklung.

 

Michael Unser. Foto: Mario Berger
Michael Unser. Foto: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Wo sehen Sie die Automobilzulieferer in der Region, Herr Unser?

Unser: Da gibt es Unterschiede, pauschal lässt es sich nicht sagen. Aber im Einzelfall geht es ans Eingemachte. Wir haben Firmen wie die KS Huayu Alutech mit 1000 Leuten, die hängen voll am Verbrenner. Die sind zwar schon seit vier, fünf Jahren dabei, sich neu aufzustellen. Aber bauen Sie mal einen neuen Bereich auf, wo Sie wieder 1000 Leute beschäftigen können.

 

Müssten Hersteller und Zulieferer jetzt nicht an einem Strang ziehen?

Unser: Das wäre schön. Tatsächlich verändert sich gerade auch die Mentalität – nicht zum Guten. Wir haben einen Fall, da hat ein Unternehmen einen Auftrag von einem deutschen Hersteller erhalten. Es wurden Millionen investiert, dann wird der Auftrag storniert. Nun besteht die Gefahr, dass das Unternehmen auf seinen Investitionen sitzen bleibt, weil der Hersteller damit droht, dass keine Folgeaufträge mehr kommen, wenn diese Kosten geltend gemacht werden. Dabei gibt es unterschriebene Verträge. Das ist eine ganz neue Qualität in der geschäftlichen Zusammenarbeit.

 

Wie reagieren die Zulieferer? Nehmen sie auch Geschäftsfelder außerhalb der Autoindustrie ins Visier?

Ernstberger: Das mag es im Einzelfall geben. Aber viel mehr Firmen machen sich konkret Gedanken, ihre Produktion ins Ausland zu verlegen. Es stehen zudem Übernahmen an. Diese Arbeitsplätze werden dann nicht mehr zurückkommen. Und weder Gewerkschaften noch wir können daran ein Interesse haben.

Unser: Ja, das ist so. Es werden jetzt grundlegende Entscheidungen getroffen. Deshalb reden wir beide auch mit der Bundespolitik, wie man solche Entwicklungen verhindern kann. Denn wenn die Menschen nicht mehr arbeiten, dann fehlen auch ihre Steuergelder. Deshalb sollte beispielsweise Qualifizierung subventioniert werden, um die neuen Herausforderungen angehen zu können. In der Produktion ist das im Übrigen nicht ganz einfach, weil es mit einem zweimonatigen Kurs nicht getan ist. Ein Gießer ist ein Gießer. Und mit Mitte 50 ist es schwierig, sich noch einmal komplett neu zu orientieren.

 

Trotzdem braucht es die Qualifizierungsbemühungen...

Unser: Natürlich. Und da dürfen größere Unternehmen auch nicht von einer Förderung durch die Arbeitsagentur oder den Europäischen Sozialfonds ausgeschlossen werden. Da sind doch andere Kriterien ausschlaggebend. Wieder ist die Bundespolitik gefordert.

 

Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter vereint in Sorge um Arbeitsplätze in der Region. Da dürfte manchem der Ernst der Lage bewusst werden. Kommen Sie da mit klassischem Rollenverständnis weiter?

Unser: In der Verhandlung ja, da vertritt auch jeder seine Position. Aber wir haben eine große Schnittmenge bei den Lösungsansätzen zu den aktuellen Problemen. Die zwei Organisationen sind – zumindest in unserer Region – näher zusammengerückt, wenn es um solche Sachthemen geht.

Ernstberger: Richtig. Und noch etwas: 2016 hat die Automobilindustrie 4,7 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen. Sie bleibt die Leitindustrie in Baden-Württemberg und sie ist die bestimmende Industrie im Raum Heilbronn. Sorgen bereitet uns das vorherrschende negative Image der Automobilindustrie trotz dieser Tatsache. Viele sagen da: „Selber schuld“ und schauen teils sogar mit einer gewissen Schadenfreude auf diesen Industriezweig. Darunter sind oft auch Vertreter, von denen man es nicht erwarten würde. Aber das bringt uns nicht weiter, und es bringt vor allem den Beschäftigten, die sich um Ihre Arbeitsplätze Gedanken machen, nichts. Es geht vielmehr darum, so viel Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten. Dies ist eine gemeinschaftliche Aufgabe aller Stakeholder.

 

Ministerpräsident Kretschmann betont, dass die Verbrennertechnik weiter ihren Platz in Deutschland hat.

Ernstberger: Das ist richtig. Er weiß, dass 470.000 Leute in Baden-Württemberg direkt und indirekt dranhängen. Es wäre schön, wenn andere das noch deutlicher erkennen würden. Bei uns heißt es: Wenn Audi hustet, ist die ganze Region krank. Das gilt auch für Baden-Württemberg.

 

Fordern Sie also mehr staatliche Subventionen?

Ernstberger: Was bisher gelaufen ist, ist alles in allem gut. Für den zweiten Automobilgipfel im November hoffen wir noch auf mehr Unterstützung für unsere Zulieferer.

 

Auf regionaler Ebene versucht das Bündnis für Transformation die richtigen Impulse zu geben. Funktioniert das?

Unser: Es gibt hier so viele gute Protagonisten, aber jeder kocht bislang sein eigenes Süppchen. Das haben wir erkannt und schon vor Corona das Bündnis angestoßen. Es soll breit aufgestellt sein, gerne auch wissenschaftlich begleitet werden. Aber die Zeit läuft uns davon.

Ernstberger: Das Bündnis befindet sich auf einem guten Weg. Wichtig ist, dass der Benefit für die Unternehmen nach außen erkennbar ist. Dies ist sicherlich auch eine Frage des zur Verfügung stehenden Budgets.

 

Anfang 2021 geht es wieder in die Tarifverhandlungen. Was wünschen Sie sich von den Arbeitgebern in dieser Situation, Herr Unser?

Unser: Wir brauchen nach wie vor eine Stärkung der Kaufkraft, dafür brauchen wir ein Plus beim Lohn. Daneben müssen wir Lösungen finden beim Thema Arbeitszeit. Ob das am Ende eine Vier-Tage-Woche ist oder etwas anderes, da bin ich offen. Die Frage ist, wie wir die weniger werdende Arbeit anders verteilen, um die Menschen im Unternehmen zu halten. Dazu bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Firmen wie Porsche, wo es viel Arbeit gibt und kräftige Lohnsteigerungen angemessen sind, und anderen, wo es wenig zu verteilen gibt. Das wird schwierig.

 

Da sind Sie also zu Zugeständnissen bereit?

Unser: Wenn wir acht Prozent fordern und wir treffen uns bei fünf, dann habe ich nichts dagegen. Im Ernst: Es geht ums Gesamtpaket.

 

Und um Öffnungsklauseln?

Unser: Die Diskussion hatten wir.

Ernstberger: Es wurden in den letzten Jahren verstärkt Ergänzungstarifverträge im Rahmen von Pforzheimer Abkommen abgeschlossen. Eine belastbare (automatische) Erleichterung vom Flächentarif für besonders betroffene Firmen ist in Anbetracht der momentanen Situation aber angezeigt.

 

Was umgekehrt erwarten Sie von den Gewerkschaften, Herr Ernstberger?

Ernstberger: Die Tarifpolitik muss einen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten. Vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses bedeutet dies Unterstützung statt zusätzliche Belastung.  Unsere Firmen sagen ganz klar: Es besteht kein Verteilungsspielraum, wir brauchen vielmehr Entlastungen. Es gibt Punkte wie Qualifizierung, die eine Rolle spielen werden. Ich erwarte eine sehr herausfordernde Tarifrunde.


Zur Person:

Jörg Ernstberger (40) ist in Bayreuth und Nürnberg aufgewachsen und hat mehrere Jahre bei der Jenoptik AG tätig, bevor er 2012 zur Südwestmetall-Bezirksgruppe Heilbronn/Region Franken wechselte. Seit 2019 ist er hier Geschäftsführer.

Michael Unser (54) stammt aus Heidelberg und arbeitete mehr als 24 Jahre für einen Autozulieferer in Heidelberg. Seit 2007 ist er für die IG Metall in der Region tätig. Seit 2015 ist er Erster Bevollmächtigter der Unterländer IG Metall. 

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
  Nach oben