Liebe über den Tod hinaus
Marco Schulz erhält vor zweieinhalb Jahren die Diagnose ALS. Die Krankheit ist unheilbar, lähmt nach und nach alle Muskeln - bis zum Tod. Wie geht seine Familie damit um? Eine Geschichte, die zeigt, was Liebe aushält.

Was kann Liebe? Wie viel hält Liebe aus? Und wie zerstörerisch kann Liebe sein? Die Liebe zwischen Marco Schulz und seiner Frau Nina (32) wird ein ums andere Mal auf eine harte Probe gestellt. Marco Schulz ist krank. Der 38-Jährige hat ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Und an dieser Krankheit wird er sterben. Am 6. September 2017 erhält er die Diagnose.
Statistisch gesehen sterben ALS-Patienten zwei bis vier Jahre nach der Diagnose, erklärt Schulz. Etwa 8500 Menschen in Deutschland seien von dieser Krankheit betroffen. Die meisten über 60 Jahre alt. Dass einer unter 40 Jahre an ALS erkrankt, sei noch unwahrscheinlicher, als ein Sechser im Lotto. Seine Frau kümmert sich um ihren Mann. "Wir haben uns bei der Hochzeit das Versprechen gegeben: Wie in guten als auch in schlechten Zeiten", sagt sie.
Marco Schulz war als Sportler topfit
"Sie ist die Liebe meines Lebens. Für den Menschen, den man so liebt, wünscht man sich nur das Beste", sagt Schulz, der mit seiner Familie in Freudental (Landkreis Ludwigsburg) lebt. Die Krankheit hat seinen Körper befallen. Vereinfacht ausgedrückt, verlieren ALS-Patienten die Kontrolle über ihre Muskulatur.
Schulz kann seine Arme nicht mehr bewegen. Der Mann mit dem Drei-Tage-Bart trägt ein dunkelblaues T-Shirt. Darüber ein rotes Holzfällerhemd aus dicker Baumwolle. Er spricht langsam, aber klar und in druckreifen Sätzen. Das Sprechen strengt ihn an. Seine Arme liegen auf den Lehnen seines Rollstuhls. Beide Arme sind tätowiert. Er wirkt stämmig.
Bei einer Größe von 1,90 Meter wiegt er mehr als 100 Kilogramm. Vor der Krankheit wäre ein solcher Body-Mass-Index für ihn undenkbar gewesen. Er war Ausdauersportler, durchtrainiert, muskulös, topfit. Schulz spielt Basketball in Bietigheim. Nach seiner aktiven Zeit wechselt er zum Radfahren oder geht laufen. Oft gemeinsam mit seiner Frau Nina. Ehrgeizig wie er ist, versucht er von Training zu Training seine Zeiten zu verbessern. Geht nicht, lässt er nicht zu.
Dann kommt ALS. Er legt an Pfunden zu. Dadurch verzögere sich der Verlauf der Krankheit, erklärt er. Also Kilo anessen. Der Diplom-Ingenieur arbeitet erfolgreich bei der Firma Bosch-Engineering. Das Unternehmen hält auch jetzt an ihm fest.
Es fühlt sich an, als seien die Muskeln permanent angespannt
Die Medizin weiß schon viel über ALS. Aber noch nicht alles. Joachim Sproß sagt: "In der Regel sind sportlich sehr aktive Menschen mit einer hohen Effektivität von ALS betroffen." Sproß ist Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, nach eigenen Angaben der größten und ältesten Gesellschaft für Muskelkrankheiten in Deutschland.
Es fühle sich an, als seien seine Muskeln permanent angespannt, versucht Schulz das Gefühl zu beschreiben. "Das führt zu Krämpfen, wie bei einem Wadenkrampf. Nur an unterschiedlichen Stellen." ALS mache vor keinem Muskel halt. Irgendwann wird er seine Beine nicht mehr bewegen können, er wird nicht mehr kauen, nicht mehr schlucken und nicht mehr sprechen können.
"Das ist meine größte Angst. Wenn ich mir vorstelle, ich kann meiner Frau und meinen Kindern nicht mehr sagen, wie sehr ich sie liebe." Sein Körper sei im Grunde wie ein Gefängnis, aus dem er nicht mehr rauskomme. Er wird auch irgendwann nicht mehr atmen können. "Ich bin mit dem Kopf live dabei, wie der Körper stirbt."
Töchter setzen sich mit dem Tod des Vaters auseinander
Schulz erinnert sich gut an den Tag, als er mit der Familie im Hallenbad ist und ihn ALS zum ersten Mal einschränkt. In der Umkleidekabine versucht er, seine Socken anzuziehen. "Das war das erste Mal, dass ich es nicht schaffte." Seine damals fünfjährige Tochter sieht, wie sich ihr Vater abmüht. Sie sagt zu ihm: "Papa, wir kriegen das hin." Seine beiden Töchter setzen sich mit dem Tod ihres Vaters auseinander.
Als eine von ihnen bei einem Spaziergang am Friedhof vorbeiläuft, fragt sie daheim ihren Vater, wo denn der beste Platz für ihn auf dem Friedhof wäre. "Wenn du gestorben bist, ist es dir dann kalt?", möchte sie wissen. Sie werde ihm eine Decke mit ins Grab legen. "Es ist die große Liebe, die wahre Liebe eines Kindes, die man in diesem Moment spürt", sagt Schulz. Es fällt ihm schwer, über diese sehr persönlichen Erlebnisse zu sprechen. Obwohl er sagt: "Ich bin nicht traurig, dass ich die Krankheit habe, sondern froh über die Liebe, die ich spüre."
Er möchte seiner Familie, die er über alles liebt, etwas hinterlassen. Vor allem den beiden Töchtern. Als Schulz die Diagnose erhält, sind sie drei und fünf Jahre alt. Zu jung, um zu verstehen, was mit ihrem Vater passieren wird. "Ich habe angefangen, Briefe zu schreiben und Videobotschaften aufzunehmen."
Marienkäfer ist Ideenlieferant für ein Buch
Und er hat ein Buch geschrieben (siehe unten). Es handelt von einem Erlebnis aus der Zeit vor ALS. 2015, als er noch nichts von der unheilbaren Krankheit weiß, er an seinem Arbeitsplatz sitzt und ein Marienkäfer auf einem Apfel landet. Von diesem unerwarteten Besuch erzählt er seinen beiden kleinen Töchtern.
Der Marienkäfer geht den Kindern nicht mehr aus dem Kopf und Schulz baut den kleinen Flieger, den er Marie nennt, in seine Gute-Nacht-Geschichten ein. Als er zwei Jahre später die Diagnose erhält, wird Marie zum Liebesbotschafter. "Was will ich meinen Kindern für ihr Leben mitgeben? Die Antwort darauf ist einfach: Liebe", schreibt er ins Vorwort seines Buches.
Bei dem Buch über Marie bleibt es nicht. Drei weitere Notizbücher kommen hinzu. Notizen, mit tagesaktuellem Bezug. Er macht Fotos und schreibt Geschichten dazu auf. "Ich möchte in den Herzen der Menschen, die mich lieben, bleiben. Egal, auf welche Weise." Seine Familie und Freunde zählt er dazu. Ohne diese Menschen um ihn herum hätte er nicht die Kraft, das alles zu ertragen, erklärt er.
Sie tauschen Zärtlichkeiten aus
Besonders viel Kraft gebe ihm seine Frau. "Dass das Konstrukt Familie nicht kaputtgeht, ist ihr Verdienst." Sie kümmere sich um ihn und um die Kinder. Es gebe die Momente, in denen er und seine Frau Zärtlichkeiten austauschen. Wenn sie zusammen auf seinem Krankenbett im Wohnzimmer liegen.
"Ich brauche meine Frau. Die Wärme, die Nähe. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich das nicht hätte." Dass er seine Kinder nicht mehr umarmen kann, tue unheimlich weh. Er, der Aktive, sei jetzt dazu verdonnert, auf Liebesbeweise zu warten. "Aber sie kommen zu mir, nehmen mich in den Arm oder setzen sich auf meinen Schoß." Das seien Momente, die für Schulz unbeschreiblich schön und kostbar seien.
Suche nach Verlag
Marco Schulz hat für seine beiden Töchter ein Buch über Marie, einen kleinen Marienkäfer, geschrieben. Darin erzählt Marie über ihre Erlebnisse mit ihren Freunden. Viele Tiere erleben gemeinsam mit ihr unterschiedliche Abenteuer.
Freunde von Marco Schulz haben das Buch mit schönen Bildern gestaltet. Nun sucht der 38-Jährige einen Verlag, der sein Buch herausgibt.

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