Blechlawinen nerven die Menschen, die nahe an der Autobahn wohnen
Autobahnen prägen den Alltag der Menschen, die nahe an A6 oder A81 leben. Mit manchen Gegebenheiten haben sie sich arrangiert, aber manchmal machen sie ihrem Frust Luft.

Das deutsche Autobahnnetz ist mit 13.000 Kilometern ziemlich engmaschig. 164 Kilometer davon liegen direkt vor unserer Haustür. A6 und A81 sind wie Lebensadern. Staut sich irgendwo der Verkehr, kommt es zum Kollaps. Wie gehen Menschen in den Anrainerkommunen zwischen Kirchardt und Kupferzell damit um?
Manchmal drückt Ferdinand Sandulas Ehefrau den Schalter der Fußgängerampel in der Ortsdurchfahrt von Bad Rappenau-Fürfeld, obwohl sie nicht vorhat, die Straße zu überqueren. Haben Fußgänger grün, ruht für einen Moment der Auto- und Lkw-Verkehr auf der vielbefahrenen B39. Sandula nutzt die Gelegenheit, setzt mit dem Wagen zurück, biegt von der Hofeinfahrt auf die Straße ein. Geschafft. "Sonst komme ich manchmal nicht raus", sagt der 65-Jährige. Er lebt seit etwa 20 Jahren in Fürfeld.
Manchmal muss der angestaute Ärger raus
Passiert auf der nahen A6 ein Unfall, quält sich eine Blechlawine durch den Ort. Damit hat sich der Senior arrangiert. "Nur manchmal", sagt er und lacht, "manchmal muss der Ärger raus." Der Frust über die ungezählten Fahrzeuge direkt vor seinem Balkon, den er nicht nutzt, über Raser, wenn die Ortsdurchfahrt frei ist, über Lärm und Abgase. "Es ist eine Katastrophe."
In Bretzfeld-Schwabbach stehen Hannelore Laumann (70) und Anne Schüll (66) an der Schwabenstraße, die schnurstracks zur A6-Auf- und Abfahrt führt. Wer zum Beispiel in Stuttgart arbeite, sei sofort auf der Autobahn, nennt Schüll einen Vorzug. Laumann wohnt im Teilort Dimbach. Geht sie mit dem Hund Gassi, hört sie das Rauschen der Fahrzeuge auf der Autobahn, doch das störe sie nicht. Wenn auf der A6 nichts mehr geht, gehört Dimbach zu den leidtragenden Dörfern. Dann weichen unzählige Fahrzeuge auf die Landstraßen aus. In Schwabbach schlängeln sich Autofahrer gern durchs Wohngebiet Blumenstraße.
Bretzfelds Bürgermeister Martin Piott weiß: "Viele Bürgerinnen und Bürger sind durch die häufigen Stauereignisse auf der A6 im besonderen Maße durch den Verkehr und den damit einhergehenden Lärm belastet." Er nennt Zahlen vom September 2019, als im Zuge der "lange überfälligen" Ausbauplanung der Ortsdurchfahrt Bitzfeld die sogenannte Spitzenstundenbelastung aufgenommen worden ist.
Demnach fahren morgens zwischen 7 und 8 Uhr etwa 1240 Fahrzeugen durch den Ort und abends zwischen 16.30 und 17.30 Uhr 1524. Piott geht davon aus, dass bei Stau der Verkehr in Bitzfeld um zirka 30 bis 40 Prozent steigt. Durch den Einbau des Flüster-Asphalts sei die durch das normale Verkehrsaufkommen grenzwertige Lärmbelästigung nun verbessert worden. Weit problematischer gestalte sich das Verkehrsproblem in Schwabbach.
Versprechen von einst gilt nicht mehr
Sind die Autobahnen dicht, verstopfen viele Straßen. Die Auswirkungen sind in zahlreichen Kommunen der Region spürbar. Beispielsweise in Hölzern, einem Ortsteil von Eberstadt. Nach Zahlen des Lärmaktionsplans fahren im Durchschnitt am Tag etwa 9000 Autos und Lastwagen durch den Ort. Die Zahlen werden um ein Vielfaches höher sein, wenn es Stau auf der A6 gibt, schätzt Bürgermeister Stephan Franczak.
Mit dem Bau von Autobahnen kam einst das Versprechen, diese verbinden die Bürger mit der Welt und entlasten deren Ortsstraßen. Heute ist es genau andersherum: Die Ortsstraßen entlasten die Autobahnen, wenn dort nichts mehr geht. In Kirchardt lässt sich das gut beobachten. In der schmalen Ortsdurchfahrt kommen kaum zwei Lkw aneinander vorbei. Kunden der angrenzenden Geschäfte haben es dann schwer.
"Bis man jetzt wieder dahergefahren ist", sagen sie dann entnervt, wenn sie endlich im Laden stehen. Anja Groß, Inhaberin eines Schreibwarenhandels, nimmt den normalen Verkehr vor der Tür nicht mehr wahr. Wenn im Ort aber nichts mehr vorwärtsgeht, dann fragt sie sich schon: Was ist jetzt wieder los? "Die A6 ist ein leidiges Thema."
Kommentar: Trügerisch
Von Heike Kinkopf
Baustellen, Unfälle mit zum Teil schlimmen Folgen für die Opfer. Die Autobahnen 6 und 81 sind oft mehr Fluch als Segen. Wenn es gut läuft, sind Autofahrer rasch in Stuttgart, Nürnberg, Würzburg oder Heidelberg. Läuft es aber schlecht, wird die Fahrt zur Geduldsprobe. Zu den Leidtragenden gehören Menschen in der Region. Ein Crash auf der Autobahn führt zu weiträumigen Umfahrungen der Unfallstelle. Auf den hiesigen Landstraßen geht dann oft ebenfalls kaum mehr etwas vorwärts. Die Straßen sind nicht dafür ausgelegt, Autos und Lkw in schier unbegrenzter Zahl aufzunehmen.
Nicht wenige Verkehrsteilnehmer und Bewohner der besonders belasteten Orte hoffen auf Besserung durch den sechsspurigen A6-Ausbau. Mit dem nahen Ende der Arbeiten steht auf dem Teilstück zwischen Wiesloch und Weinsberger Kreuz je eine Fahrbahn mehr zur Verfügung. Im Hohenlohekreis verzögert sich der Start des Ausbaus. Derzeit ist nicht vor 2026 damit zu rechnen. Für die Arbeiten sind etwa fünf Jahre veranschlagt. Eine lange Zeit für alle, die häufig auf der Strecke unterwegs sind.
Dass mehr Fahrspuren dauerhaft eine Verbesserung des Status quo bringen, ist allerdings fraglich. Verkehrsexperten sind sich einig: Mehr Straßen führen zu mehr Verkehr. Es ist kein geeignetes Mittel, um die Zahl der Autos und Lkw langfristig zu begrenzen. Umso wichtiger ist der dringend notwendige Ausbau von alternativen Verkehrsmitteln. Damit tun sich die politisch Verantwortlichen sehr schwer, wie allein ein Blick in die überfüllten Busse und Bahnen beim Schülertransport beweist. Wer schon dafür keine Lösung findet, von dem kann nichts Großes erwartet werden. Die viel beschworene Verkehrswende ist nicht in Sicht.


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