Die 1990er Jahre in Heilbronn: Zwischen Euphorie und Enttäuschung
Ein spannender und spannungsreicher Stadtarchiv-Band über die bewegten 1990er Jahre in Heilbronn ist jetzt erschienen. Das Werk von Archivdirektor Christhard Schrenk und weiteren Autoren beinhaltet tolle Fotos und gut lesbare Texte.

Im Nachklang der Wiedervereinigung Deutschlands und des Fußball-WM-Erfolgs begann das Jahrzehnt ganz in Schwarz-Rot-Gold, mit Euphorie und großen Hoffnungen. In Heilbronn markierte die Stadtbahn den Aufbruch, auch durch den Abzug der US-Army bekam die Stadtentwicklung einen Schub, - der durch den Rathausskandal und die Finanznot gebremst wurde, aber auch durch Sorgen um Übersiedler und Flüchlinge, Orkane, Waldsterben, Klimawandel. Nicht zuletzt liegen in den 90ern mit der Erfindung des Internets die Wurzeln der digitalen Revolution.

Ganz auf Höhe der Zeit, also corona-bedingt per digitalem Live-Chat präsentierte das Stadtarchiv Heilbronn jetzt "Die 1990er Jahre in Heilbronn: Erinnerungen, Erkenntnisse, Aktualität": ein 342 Seiten starkes Buch zu 17,50 Euro, das aus der "Wissenpause" hervorgegangen ist. Im Juli hatte dabei Archivdirektor Christhard Schrenk an zehn Tagen 20 prominente Zeitzeugen zu Interviews auf eine Freiluft-Bühne im Deutschhof geladen und dabei täglich oft mehr als hundert kulturbeflissene Besucher angelockt. Ergänzt werden die von Gerhard Schwinghammer schriftlich dokumentierten Gespräche mit persönlichen Erinnerungen von acht weiteren Zeitzeugen, einleitenden Worten der Kulturbürgermeisterin Agnes Christner sowie Schrenks Vorwort und Resümee.
Bilder auch von Stimme-Fotograf Hermann Eisenmenger

Bildhaft vor Augen führen die 1990er zahlreiche Fotos, die überwiegend von Barbara Kimmerle und Mathäus Jehle (Stadtarchiv) stammen, aber auch noch vom legendären Stimme-Fotograf Hermann Eisenmenger. Das programmatische Titelbild des von Paula Frank gestalteten und von Anna Aurast redaktionell betreuten Bandes zeigt vor dem Kiliansturm und den durchs Marrahaus ersetzten C&A die 1991 gebaute Neckartreppe mit Taxiboot, die die Neuentdeckung der Stadt am Fluss markieren.

Das zwischen Euphorie und Enttäuschung pendelte Lebensgefühl der 90er fangen die vom Gaffenberg mitgeprägte Grünen-Politikerin Susanne Bay, heute sogar Regierungspräsidentin, und der legendäre, 2021 verstorbene Patron des Insel-Hotels ein, Hans-Georg Mayer: von Lichterketten gegen Rechts bis zum Theaterschiff. Die Grundlinien der Kommunalpolitik zeigen der damalige Erste Bürgermeister Werner Grau und Ex-SPD-Stadträtin Uschi Schneider, ehedem Binder, auf. Die Herausforderungen des schon damals konstatierten Klimawandels, aber auch die mit einem neuen Grünleitbild aufblühenden Parks - bis hin zum viel beklagten Abriss des Areals der Jägerhaus-Klinik rücken Jörg Kuebart vom Nabu und Michael Schmid vom Grünflächenamt ins Blickfeld. Die Hochzeiten der Frauenbewegung, inklusive Streiktag vom 8. März 1993, würdigen Ex-Verdi-Frau Marianne Kugler-Wendt und Bettina Suditsch.
Wie nach dem Zuzug sogenannter Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion die jüdische Gemeinde neu gegründet wird, erinnern deren Vorsitzende Avital Toren und Pfarrer Günter Spengler. Dazu am Rande: Im März/April soll im Stadtarchiv ein Buch zum Judentum in Heilbronn erscheinen.
Abzug der US-Army macht weg frei

Ex-Ordnungsbürgermeister Artur Kübler und Journalistin Suse Bucher-Pinell reflektieren nach vier Jahrzehnten den Abzug der US-Streitkräfte und erinnern an bis zu 10.000 Amerikaner, die einst das Stadtbild mitprägten. Wie maßgebliche Firmen die Weichen fürs nächste Jahrzehnt stellen, berichten Bechtle-Mitbegründer Ralf Klenk ("Mitarbeiter sind der Schlüssel zum Erfolg.") und Ex-IG-Metall-Chef Frank Stroh.
Brigitte Lang und Andrea Oppolzer reflektieren das identitätsstiftende Jubiläum 1250 Jahre Heilbronn von 1991, Elke Schumann und dessen Sohn Nico Weinmann das Leben und Wirken des damaligen OB Manfred Weinmann. Tilo Elser von den Stadtwerken und der damalige Baubürgermeister Ulrich ´Frey vertiefen die Stadtbahn-Erfolgsstory: von Karlsruhe über Eppingen und gegen manche Widerstände durch Heilbronn, während sie an der Trasse vom Hauptbahn über Kaiserstraße und Allee bis in die Nordstadt eine Gestaltungsoffensive in Gang bringt - ehe sich der Fokus im Rathaus von der City wegbewegt: an den Neckar mit Buga-Vision.
Wissenspause zu den 1990ern
Die reich bebilderte und gut zu lesende Neuerscheinung "Heilbronn in den 1990er Jahren" (17,50 Euro, 342 Seiten) wurde vom Stadtarchiv Heilbronn herausgegeben und von der Heilbronner Stimme gefördert. Das Buch versammelt die Veranstaltungen der Reihe Wissenspause im Deutschhof. Archivchef Christhard Schrenk führte dabei zehn spannende Interviews mit Zeitzeugen und Experten. Ergänzt wird der Band durch Erinnerungen von Hans-Peter Barz, Joachim Beuchert, Konrad Keicher, Alexander Kerste, Robert Mucha, Helga Schwede, Thomas Villinger und Bernhard Winkler.