Die Tiktok-Verdummung muss gestoppt werden!
Bisher wurde zu wenig unternommen, um Tiktok in die Schranken zu weisen. Wenn die EU diesen Fehler nicht korrigiert, muss ein Verbot diskutiert werden, meint unser Autor.
Man darf Tiktok guten Gewissens als die Endstufe der Internet-Verdummung bezeichnen. Ein Wisch mit dem Daumen, mehr ist nicht mehr nötig, um sich stundenlang einer endlosen Flut von Videos auszusetzen.
Was da vor den Augen vorbeiflimmert, ist eine toxische Mischung: Hunde jaulen Tonleitern und Hydraulik-Pressen zerquetschen Früchte. Direkt daneben Videos, in denen depressive Gedanken befeuert, der Holocaust geleugnet und Challenges gemacht werden, bei denen immer wieder junge Menschen sterben. Schaut man zu lange hin, führt einen der manipulative Algorithmus in die Abhängigkeit.
Es ist höchste Zeit, dass Tiktok radikal umgekrempelt wird. Bisher gab es seitens des Staates nur zaghafte Versuche, um den Auswüchsen auf der Plattform Herr zu werden. Sollte das nicht gelingen, darf ein Verbot kein Tabu sein.
Corona hat Tiktok schlagartig zum Aufstieg verholfen
Viel zu lange hatten die politisch Verantwortlichen in Berlin und Brüssel Tiktok als unwichtig abgetan. Während 2018 in China und den USA schon geswipet wurde, bis der Daumen glüht, hielt sich das Interesse von Politik und Usern in Europa in engen Grenzen. Allenfalls ein paar Nischenmagazine klärten Eltern darüber auf, was sie über die Plattform wissen müssen.
Mit der Pandemie änderte sich das schlagartig. Tiktok verbreitete sich auf den Handys der Kinder und Jugendlichen ebenso explosionsartig wie das Coronavirus in der Bevölkerung. Seitdem formatiert die App millionenfach die Gehirne der Jugend: Wer sich mit minimalstem Aufwand durch die Videoflut wischt, versinkt unweigerlich in einer Parallelwelt.
Jugendliche wissen, dass Tiktok problematisch ist
Die Universität Oxford hat dieses Phänomen gerade erst zum Wort des Jahres gekürt: „Brain Rot“, auf Deutsch: Hirnfäule. Dabei wissen junge Menschen durchaus, was Tiktok mit ihnen anstellt. Eine Studie der Initiative „Klicksafe“ mit 12- bis 14-Jährigen hat ergeben: Die jungen Nutzer erkennen, dass es schwer ist, von Tiktok loszukommen, dass auf der Plattform ein hoher Perfektionsdruck herrscht und der Hass grassiert. Befunde, die neuere Studien auch international immer wieder bestätigt haben.
Zu lange hat es gedauert, bis die Politik aus ihrem Tiefschlaf aufgewacht ist. Über das von der großen Koalition hingezimmerte Gesetz mit dem sperrigen Namen Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat man in der Tiktok-Firmenzentrale in Singapur vermutlich herzlich gelacht. Gerade mal 50 bedenkliche Videos und Kommentare, die gegen das NetzDG verstoßen, meldete die Plattform im zweiten Halbjahr 2019 – bei einer App, die damals schon 5,5 Millionen Deutsche (heute: mehr als 21 Millionen) genutzt haben. Im Ernst?
Tiktok will sich Vorgaben aus Brüssel nicht gefallen lassen
Die EU-Kommission musste die Larifari-Gesetzgebung aus Berlin korrigieren und Ursula von der Leyen kündigte das Digitale-Dienste-Gesetz an. Ende 2020 vorgeschlagen, wurde die Verordnung innerhalb von zwei Jahren verabschiedet, für Brüsseler Verhältnisse ist das Rekord. Seitdem gilt Tiktok als Gatekeeper. Der Begriff bezeichnet Plattformen, die so bedeutend sind, dass sie die strengsten Regeln für Jugendschutz, Transparenz und Werbung erfüllen müssen.
Wer aber denkt, dass das Problem mit einer 102-seitigen Verordnung gelöst sei, irrt sich. Erst mal ging ein Verfahrenskrieg los: Die EU-Kommission stuft Tiktok als Gatekeeper ein, Tiktok klagt dagegen, Brüssel gewinnt. Die EU-Kommission rügt Tiktoks neues Belohnungssystem, Tiktok wehrt sich dagegen, Brüssel gewinnt – und so weiter. Der Rechtsstaat siegt, aber er siegt langsam.
Währenddessen wächst Tiktok immer weiter, wird von immer mehr Menschen und immer jüngeren Nutzern konsumiert. Die Jugendschutzmaßnahmen, die die Plattform eingeführt hat, sind derart leicht zu umgehen, dass sie nichts bewirken dürften – erst recht nicht, wenn Eltern nicht wissen, wie sie die Beschränkungen einrichten können.
Wie die EU Tiktok die Daumenschrauben anziehen muss
Was also tun? Die EU muss schnell nachbessern. Zuerst muss der persönliche Feed weg. Nutzer sollten selbst entscheiden, was sie interessiert und wem sie folgen. Passiert das nicht, sollten nur zufällige Videos gezeigt werden und der Algorithmus jeden Tag aufs Neue vergessen, was er über den Nutzer weiß.
Außerdem muss Tiktok kritische Inhalte endlich löschen und bestraft werden, wenn das unterbleibt. Nutzer sollten Hass, Hetze, Rassismus und Holocaust-Leugnung mit wenigen Klicks melden können – und ihre Hinweise tatsächlich überprüft werden. Bisher sieht das Digitale-Dienste-Gesetz keine Strafen vor, wenn die Plattformen zu lax mit strafbaren Inhalten umgehen - ein Geburtsfehler, der korrigiert gehört. Inspiration liefert die Datenschutzgrundverordnung, zwei Prozent des weltweiten Jahresumsatzes als Strafe tun selbst TikTok weh.
Die Polizei sollte endlich Präsenz auf der Plattform zeigen, wie auch im analogen Leben. Eine Internetstreife, die sich bei Tiktok umschaut und zu festen Zeiten ansprechbar ist, dürfte für Eindruck sorgen. Klar ist, dass all das Geld kostet und mehr Personal benötigt.
Ein Tiktok-Verbot wie in Australien kann das letzte Mittel sein
Hilft all das nichts, muss Tiktok eben verboten werden - wie Australien das für Jugendliche gerade vorgemacht hat. Tiktok ist nicht irgendeine Plattform, sie hat das Leben von Millionen Kindern und Jugendlichen im Griff, jeden Tag, stundenlang. Es ist wie Rauchen oder Alkohol, eine Sucht: Viele Nutzer wissen selbst, dass die App ihnen Lebenszeit klaut, sie verdummt, frustriert und depressiv macht. Alles egal, wenn das nächste witzige Video nur einen Daumenwisch entfernt ist.