Rund um die Europastadt Görlitz erreicht die AfD Spitzenwerte. Was sind die Ursachen?
Im Landkreis Görlitz in Sachsen kommt die Rechtsaußen-Partei auf Werte um die 40 Prozent, dabei steht die Region für den europäischen Gedanken.

Niesky in Sachsen, Große Kreisstadt mit knapp 10 000 Einwohnern, umgeben von Baggerseen und Radwegen, die polnische Grenze ist nicht fern. Das Städtchen hat ein idyllisch am Waldrand gelegenes Freibad, ein kleines Krankenhaus, ein saniertes Gymnasium und eine neue Eislaufhalle. Niesky ist eine intakte Kleinstadt, könnte man meinen.

Landkreis Görlitz hatte bei Europawahlen die höchste AfD-Quote
Wenn da nicht die Ergebnisse für die Blauen wären. Anfang Juni bei der Europawahl haben im Landkreis Görlitz, zu dem Niesky gehört, 40,1 Prozent für die AfD gestimmt, die höchste Quote im Freistaat. Bei den Gemeinderatswahlen waren es mit 38,9 Prozent in Niesky-Stadt kaum weniger. Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla hat im Zentrum sein Bürgerbüro, auch wenn alteingesessene Bürger sagen, er lasse sich nie blicken.

Die großen Industrie-Arbeitgeber gibt es nicht mehr
Wie passt das zusammen? Die adrette Kleinstadt mit dem Kürzel NY, in der es scheinbar an kaum etwas fehlt und die tiefe Unzufriedenheit, die sich in diesem Wahlergebnis ausdrückt? Harald Prause-Kosubek, der sich mit seiner Partei, der SPD, für die Menschen in dieser Gegend verkämpft, hat Antworten: „Der Standard war noch viel besser“, sagt er. Doch inzwischen sei die Industrie weggebrochen. Der Waggonbau Niesky: dicht. Der Metallbau, in dem große Brückenteile, zum Beispiel für die Berliner U-Bahnhöfe gefertigt wurden: zu. Die jungen Leute sind weg, die guten Gehälter ebenfalls: „Es werden keine nennenswerten Einkommensteuergewinne mehr erzielt und unsere Stadtgesellschaft altert sehr schnell.“ Das habe zur Folge, dass Niesky sich kaum noch etwas aus eigener Kraft leisten könne, sagt Prause-Kosubek, der mit dem Bündnis „Herz für Niesky“ auch im Stadtrat sitzt. Dann noch die Bundesgesetze, die in Berlin beschlossen werden und von den Kommunen vor Ort umgesetzt werden sollen, was viel Geld kostet. „Die Rahmenbedingungen sind für Kommunen so, dass sie nicht mehr gestalten können, wir sind völlig blank.“
Geringe politische Beteiligung
Hinzu komme die historische Bürde im „Tal der Ahnungslosen“, wie das Gebiet genannt wurde, in dem zu DDR-Zeiten kein Westfernsehen empfangen werden konnte. „Wie funktioniert ein Staat, wie ist er aufgebaut?“ Mit solchen Fragen täten sich viele auch 35 Jahre nach der Wende noch schwer, sagt Harald Prause-Kosubek. Deshalb habe Sachsen wohl auch den niedrigsten Wert bei der politischen Beteiligung in Parteien – auch bei der AfD, „aber die sind am lautesten“.

Görlitz ist beliebt bei Touristen und als Drehort für Filme
20 Kilometer weiter, Görlitz, beliebt bei Touristen und Filmschaffenden. Die historische Altstadt mit ihren malerischen Gebäuden ist gefragte Kulisse für große Produktionen. Polen ist nur einen Steinwurf entfernt, über die Neißebrücke im Stadtzentrum gelangt man zu Fuß dorthin. Görlitz und Zgorzelec, das sei „eine Stadt in zwei Ländern“, sagt CDU-Oberbürgermeister Octavian Ursu. Ohne Europa, den einfachen Grenzverkehr, die Arbeitskräfte aus Polen, würde es nicht funktionieren. Und doch: Auch hier ist die AfD stark. Ursu nennt die viel beklagten Themen illegale Migration und Energiepreise als Ursachen – und zudem den „Wunsch nach einem diplomatischen Frieden im Ukraine-Krieg“. Der sei viel ausgeprägter als im Westen, die Menschen seien in der DDR sozialisiert und hätten die Sowjetunion als „Bruderstaat“ kennengelernt.
Glücklich, in einer Demokratie zu leben
Der 56-Jährige, der nach dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes aus Bukarest gekommen ist, setzt auf „klare, direkte Kommunikation“, um Vertrauen zurückzugewinnen. „Ich behandle alle Stadträte gleich, auch wenn ich anderer Meinung bin und wir versuchen gemeinsam, das beste für Görlitz zu erreichen.“ Dasselbe gelte für den Umgang mit den Bürgern. Die Gespräche seien „nicht immer angenehm, aber darum geht es nicht“. Die Hoffnung hat Ursu noch nicht aufgegeben. „Ich bin in einem diktatorischen Regime aufgewachsen und weiß sehr zu schätzen, dass wir in einer Demokratie leben dürfen.“