Augenzeugenbericht aus Kramatorsk: "Alle sind in Panik"
Die Lage in der Ost-Ukraine ist verheerend. Stimme.de hat mit einer Augenzeugin aus dem umkämpften Bezirk in Donezk über die aktuellen Zustände gesprochen.

Kramatorsk in der Ost-Ukraine liegt etwa 70 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt des Bezirks Donezk und nur rund 35 Kilometer von der Frontline entfernt. In der 160.000-Einwohner-Stadt sind seit Donnerstagmorgen Explosionen zu hören, Schüsse hallen durch die Wohnbezirke, Panzer sind in den Straßen unterwegs. Der nahgelegene Militärflughafen wurde zerstört. In Kramatorsk lebt und arbeitet die 50-jährige Alena Mosyik. Sie leitet ein Altersheim, das von der im schwäbischen Welzheim ansässigen Nadja-Lang-Stiftung erst vor einem halben Jahr gefördert und aufgebaut wurde. Sie schildert stimme.de ihre Eindrücke aus dem umkämpften Gebiet.
Das öffentliche Leben ist zusammengebrochen
"Die Menschen sind panisch und hysterisch, das öffentliche Leben ist zusammengebrochen. Man kann kein Geld mehr von den Geldautomaten oder Banken abheben, in den wenigen Läden, die noch geöffnet sind und die überhaupt noch Waren haben, kann man nur bar bezahlen. Geöffnet haben nur die größeren Supermärkte, die Regale sind jedoch schon zu drei Vierteln leer. An den Tankstellen bilden sich Schlangen, bis zu 200 Autos warten pro Säule. Wir wissen nicht, wie lange wir noch kommunizieren können, wie lange es noch Internet und Mobilfunk gibt."

"Der Strom wurde abgeschaltet, das Wasser auch. Für das Altenheim konnten wir noch verschiedene Behälter mit Wasser füllen und einen kleinen Lebensmittelvorrat anlegen. Auch Windeln für die inkontinenten Bewohner konnte ich noch rechtzeitig besorgen. Die Senioren sind in Panik. Das Altenheim befindet sich in Duschkovka, die Heimatstadt der verstorbenen Stiftungsgründerin Nadja Lang, etwa acht Kilometer entfernt von Kramatorsk."
Kinder in Sicherheit bringen
Alena möchte ihre beiden Töchter in Sicherheit bringen, am liebsten nach Deutschland, wo sie Leute kennt, die sie aufnehmen würden. Aber die Straßen aus der Stadt heraus sind blockiert. Die ältere Tochter studiert in Kiew, da sei es auch nicht mehr sicher. Die jüngste Tochter ist sechs Jahre alt. Sie wurde von Alena adoptiert, die leiblichen Eltern des Mädchens wurden 2014 von Separatisten erschossen. Aber für die Ausreise der Tochter braucht sie die Einwilligung ihres Ex-Mannes, der direkt in Donezk lebt. Dorthin kann man nun unmöglich gelangen. Sie selber würde bei den Bewohnern im Altenheim bleiben, diese seien völlig verwirrt und verängstigt.
Stimmung hat sich gedreht
Alena und viele andere in der Stadt wurde von der Situation völlig überrascht. Am Dienstag noch spekulierte sie, dass es mit einer unabhängigen Republik Donezk nicht viel schlimmer sein könne als unter ukrainischer Führung. In den letzten acht Jahren herrschte schon Unsicherheit und Gefahr durch die Separatistenkämpfe und Scharmützel in der Ost-Ukraine. Die Hoffnung, dass es besser werden würde, hatten viele. Jetzt aber hätten alle Angst und seien verzweifelt. Viele wollten nur noch weg.
Nadja-Lang-Stiftung
Nadja Lang war eine ukrainisch-stämmige Industriellengattin und nach dem frühen Tod ihres Mannes selber Unternehmerin. Mit 15 Jahren wurde sie 1941 von deutschen Besatzern aus ihrer Heimatstadt Druschkovka nach Deutschland als Zwangsarbeiterin gebracht und musste in der Rüstungsindustrie arbeiten. Sie erkrankte an Tuberkulose. Nach ihrem Tod 2014 hinterließ sie ihr Vermögen der Stiftung, die ihren Sitz im Welzheim, Rems-Murr-Kreis, hat.


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