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Josip Juratovic hört nach 20 Jahren als Bundestagsabgeordneter auf

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Im Bundestag hat Josip Juratovic die Region jahrelang vertreten. Der Heilbronner SPD-Abgeordnete aus Gundelsheim ist bei der Neuwahl nicht mehr angetreten. Unsere Redaktion hat ihn in Berlin getroffen.

2005 ist der gebürtige Kroate Josip Juratovic zum ersten mal für die SPD in den Bundestag gewählt worden. Bei der Neuwahl tritt er nicht mehr an.
2005 ist der gebürtige Kroate Josip Juratovic zum ersten mal für die SPD in den Bundestag gewählt worden. Bei der Neuwahl tritt er nicht mehr an.  Foto: Christoph Donauer

Die Stimmung ist seltsam ruhig im sonst so geschäftigen Berliner Regierungsviertel. Das Paul-Löbe-Haus direkt neben dem Bundestag, in dem sich viele Abgeordnetenbüros befinden, ist wie ausgestorben. Knapp zwei Wochen vor der Wahl sind die meisten Politiker in ihrer Heimat unterwegs, um Wahlkampf zu machen.

Nicht aber Josip Juratovic. Der Heilbronner SPD-Abgeordnete sitzt an diesem Tag in seinem Büro im fünften Stock. Die meisten Schränke sind leergeräumt, gerade werden weitere Umzugskartons gebracht. Nur die Gebetsecke steht noch.

Am Dienstag nach der Wahl ist für Josip Juratovic endgültig Schluss

Am Mittag hat der Bundestag seine letzte Sitzung vor der Wahl beendet. In den Plenarsaal darf Juratovic nicht mehr, wie alle Abgeordneten. „Ich bin um 12.50 Uhr einfach rausgelaufen.“ Mit dem Unterschied, dass er nicht zurückkehren wird. Fast 20 Jahre lang hat der SPD-Politiker den Wahlkreis Heilbronn vertreten, nun hört er auf.

„Ich habe noch nicht realisiert, dass ich nicht mehr dazugehöre“, sagt der 66-Jährige. Obwohl sein Kalender ausgedünnt ist, empfängt er noch Besuchergruppen und trifft Parlamentarier-Kollegen beim Gebetsfrühstück. Zum letzten Mal wird er am Dienstag nach der Wahl in der Fraktionssitzung sein, dann werden er und alle anderen, die es nicht mehr ins Parlament geschafft haben, verabschiedet. „Das ist sozusagen der letzte Akt.“

Sein Abgeordnetenbüro im Paul-Löbe-Haus hat Juratovic leergeräumt. Seine sechs Mitarbeiter müssen sich nun bei anderen Politikern bewerben.
Sein Abgeordnetenbüro im Paul-Löbe-Haus hat Juratovic leergeräumt. Seine sechs Mitarbeiter müssen sich nun bei anderen Politikern bewerben.  Foto: Donauer, Christoph

Als Kind kommt Juratovic nach Deutschland, ohne die Sprache zu sprechen

Dass Juratovic überhaupt auf viele Jahre als Abgeordneter zurückblicken kann, ist neben seiner eigenen Arbeit ein paar Zufällen zu verdanken. Juratovic wird in Koprivnica im früheren Jugoslawien geboren. Mit 15 Jahren folgt er seiner Mutter nach Deutschland, genauer nach Gundelsheim. „Das Problem war: Ich konnte kein Wort Deutsch.“

Erste Freundschaften schließt er im Zeltlager, als er mit anderen Jungs Fußball spielt und ihnen am Lagerfeuer kroatische Kinderlieder beibringt. „Ich habe gesehen, dass die Jugend in Deutschland genauso wie in Jugoslawien ist.“

Später macht Juratovic eine Lehre zum Kfz-Mechaniker und arbeitet als solcher, bis er zum Militär in Jugoslawien geht. Seiner heutigen Frau ist es zu verdanken, dass er zurückkehrt. „Ich wäre damals nicht zurück nach Deutschland gegangen, wenn meine Verlobte nicht gewesen wäre.“

Erst Fließbandarbeiter bei Audi, dann Betriebsrat

Zur SPD findet Juratovic, als er an einem Infostand in Mannheim fragt, ob er als Ausländer Parteimitglied werden darf – und er darf. Warum es ausgerechnet die SPD war, kann er nicht genau erklären. „Ich habe mich einfach als Sozialdemokrat gesehen.“

1983 fängt Juratovic bei Audi in Neckarsulm an und wird Gewerkschafter bei der IG Metall. Er arbeitet in der Lackiererei, trägt Unterbodenschutz auf. „Das einzige, was am Fließband stimmt, ist das Geld“, erzählt Juratovic. „Das war eine Phase, in der ich beruflich ganz unten war.“

Damals geht die Angst um, weil immer mehr Roboter eingesetzt werden. „Ich habe meinen Kollegen oft gesagt: Es ist gut, dass ihr kritisch seid, aber es ist nicht alles gegen uns gerichtet.“ Später wird Juratovic zum Betriebsrat gewählt.

In den 90er-Jahren unterstützt Juratovic den Aufbau von Gewerkschaften in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Er gründet dafür die Initiative „Novi Most – Neue Brücke“, wofür er später mit zwei Friedenspreisen ausgezeichnet wird.

2005 setzt sich Juratovic gegen den SPD-Favoriten durch

2005 wird Juratovic überraschend zum SPD-Kandidaten für die Bundestagswahl im Wahlkreis Heilbronn gewählt. Er hatte sich bei der Nominierung gegen den Favoriten Rainer Dahlem durchgesetzt. Die Heilbronner Stimme schreibt damals: „Sehenden Auges haben die Unterländer Genossen eine Fahrkarte nach Berlin ausgeschlagen.“ Was passiert wäre, wenn das nicht geklappt hätte? „Nichts. Ich wäre bei Audi geblieben“, sagt Juratovic heute.

Doch es sollte anders kommen. Juratovic zieht in den Bundestag ein, wird Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Er will sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen und erlebt dabei, wie schnell man in der Bundespolitik an Grenzen stößt: Als er für die Rente mit 67 stimmt, verspricht die Industrie im Gegenzug, das Arbeiten im Alter angenehmer zu gestalten, etwa mit weniger Arbeitsstunden und Zeitkonten.

„Von der Industrie ist unheimlich viel versprochen, aber nichts eingehalten worden.“ Die Gewerkschaft Verdi startet daraufhin eine Aktion gegen Juratovic, nennt ihn Arbeiterverräter. „Das war niederschmetternd für mich. Ich wollte mein Mandat hinwerfen, schon in der ersten Wahlperiode.“ In den kommenden Jahren habe er in seinem Ausschuss versucht, die Rente mit 67 in Teilen wieder rückgängig zu machen.

Vom Arbeitsmarktpolitiker zum Osteuropa- und Westbalkanexperten

Fast wäre Juratovic die Entscheidung aus der Hand genommen worden. 2009 fahren die Sozialdemokraten historische Verluste ein. Für den Mann aus Gundelsheim auf Listenplatz 16 wird es eng: Juratovic schafft es nur knapp ins Parlament.

Von da an widmet sich der Heilbronner Abgeordnete der Außenpolitik. Als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss kümmert er sich um die Zusammenarbeit mit dem Westbalkan, wo er bis heute einer der wichtigsten Ansprechpartner aus Deutschland ist. Außerdem wird Juratovic 2018 Integrationsbeauftragter der SPD-Fraktion. Im Bundestag ist er besonders über das Gebetsfrühstück vernetzt, bei dem sich Abgeordnete aller Parteien jeden Freitag treffen.

Beim Afghanistan-Einsatz stimmt Juratovic anders als seine Fraktion

Bei einer Führung durch den Bundestag zeigt Juratovic den Fraktionssaal der SPD. Vorne kleben die Namensschilder von Fraktionschef Rolf Mützenich und Bundeskanzler Olaf Scholz, auch für die übrigen 207 Mitglieder der SPD-Fraktion ist Platz. Eigentlich sei man sich hier recht einig, bei allen Meinungsverschiedenheiten, die es in einer Partei gibt, findet Juratovic. „Sie können sich sicher sein, dass das, was nach außen dringt, oft die extremste Gegenposition ist.“ 

Zwei Mal stimmt der SPD-Politiker gegen seine Fraktion, etwa bei der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. In solchen Fällen müsse man sich einen Tag vorher beim Fraktionschef melden. Damals hätte Deutschland 3500 Soldaten liefern sollen, Ex-Kanzlerin Angela Merkel habe den deutschen Beitrag auf 1700 Soldaten runtergehandelt. Einfach weniger Soldaten schicken? Für Juratovic hätte das den sicheren Tod dieser Männer bedeutet. Entweder du lieferst das, was geplant ist, oder gar nichts.“ Man könne nicht jede Entscheidung zur Gewissensfrage machen. „Aber es gibt Momente, in denen du zu dir stehen und das sauber erklären musst.“

Warum Juratovic den Kompromiss vermisst

Seinem Stil ist Josip Juratovic treu geblieben. Er erzählt gerne ausschweifend, nur um sich danach dafür zu entschuldigen. Ein großer Redner sei er nie gewesen, sagt Juratovic. Am meisten ärgert ihn, dass es heutzutage so unversöhnlich zugeht. „Ständig werden Kompromisse als Schwäche und Spaltung hingestellt. Dabei ist das die Stärke der Demokratie.“ Es müsse doch klar sein, dass Politiker nicht jeden Wunsch erfüllen können, sagt er

Nicht einverstanden ist er, wenn Bundestagsabgeordnete als Dienstleister wahrgenommen werden. „Ich bin Repräsentant, das ist ein großer Unterschied.“ Er könne nur das fordern, was die Menschen vor Ort beschäftigt. Arbeitgebern, Gewerkschaften und Vereinen sage er deshalb: „Setzt euch zusammen, schließt einen Kompromiss. Wenn ihr den habt, kommt ihr zu mir.“

Wie es mit den Vereinigten Staaten von Europa klappen soll

Ins Schwärmen kommt der Heilbronner Abgeordnete, wenn es um die Vereinigten Staaten von Europa geht. Diese Idee eines europäischen Staates habe sich die SPD schon 1928 in ihr Heidelberger Programm geschrieben. „Natürlich schmunzelt jeder, wenn ich darüber spreche. Das ist okay, sie sollen lachen. Sie haben über alles gelacht, was wir heute geschafft haben.“

Es brauche willige Staaten wie Deutschland und Frankreich, die vorangehen. „Die Demokraten müssen sich nach der Wahl zusammenraufen, anders wird es nicht gehen. Und der Rest soll dazustoßen, wenn sie soweit sind“, meint er und schlägt seine geballten Fäuste sanft auf den Tisch. „Es ist möglich. Du brauchst eine Vision, du musst kämpfen und immer wieder drüber reden.“ Früher sei über solche Zukunftsvisionen öfter gesprochen und gestritten worden.

Eine solche Zukunftsvision hat er auch für den Westbalkan: Serbien, Bosnien, Montenegro, Kosovo, Albanien und Nordmazedonien müssten langfristig zur EU gehören. Allerdings müssten das diese Länder selbst wollen, die EU-Länder könnten lediglich dabei unterstützen. Doch bisher dominieren Nationalisten, die die Demokratie nur inszenieren, aber nicht leben. „Die ziehen eine Show ab.“

Juratovic will ein Büro in Heilbronn behalten

Künftig müssen andere über solche Themen entscheiden. Die SPD in der Region hat Jens Schäfer als Juratovics Nachfolger gewählt. Der Immobilienmakler aus Eppingen sei eher ein untypischer Sozialdemokrat, könne die SPD-Fraktion aber bereichern, sagt Juratovic. „Ich denke, der ist gut.“ Allerdings steht Schäfer auf Platz 22 der SPD-Landesliste. Mit den aktuellen Umfragewerten hat er keine Chance.

Sollte es keinen SPD-Abgeordneten aus der Region mehr in Berlin geben, will Juratovic sein Wahlkreisbüro in Heilbronn behalten, „als Ersatzabgeordneter sozusagen“, damit er weiterhin als SPD-Vertreter Kontakte knüpfen kann. Er selbst trete aber definitiv nicht mehr an. „Irgendwann ist es gut, wenn man geht. Man ist auch ausgelaugt von dem Betrieb hier.“

Arbeit im Bundestag: Nichts wird alleine erreicht

Die Frage, was er rückblickend in all den Jahren bewegt hat, ist für den 66-Jährigen nicht einfach zu beantworten. „Weil du in diesem Haus nichts alleine erreichst.“ Selbst beim A6-Ausbau, der Verlängerung der Neckarschleusen und der Sanierung der Frankenbahn habe sich wenig getan, obwohl sich die Heilbronner Abgeordneten parteiübergreifend dafür eingesetzt haben.

Zuhause in Gundelsheim hat er sich einen Weinberg zugelegt. „Vier Reihen, das ist überschaubar. Ich will das mal versuchen.“ So ganz abschalten, die Politik links liegen lassen, wird Josip Juratovic aber nicht können. Wenn ihn die nächste Bundesregierung als Berater braucht, will er gerne aushelfen. „Ich fühle mich noch nicht als Rentner.“

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