Agora-Studie: Warum das CO2-Rekordtief 2023 trügerisch ist
Es klingt nach einer guten Nachricht: Eine Studie der Denkfabrik Agora Energiewende schätzt, dass der CO2-Ausstoß 2023 auf ein Rekordtief gesunken ist. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass nur ein Teil der Emissionen dauerhaft reduziert wurde.

Das Jahr 2024 hat mit einer Überraschung begonnen: Prognosen der Denkfabrik Agora Energiewende zufolge hat der CO2-Ausstoß in Deutschland 2023 den niedrigsten Stand seit 70 Jahren erreicht. Agora zufolge wurden etwa zehn Prozent weniger CO2-Emissionen ausgestoßen als im Vorjahr. Das Problem: Der Rückgang ist vor allem "krisen- und konjunkturbedingt", heißt es in der Studie. Nur rund 15 Prozent der Einsparungen seien langfristig gesichert.
Besonders die Sektoren Energiewirtschaft und Industrie, die die meisten Emissionen verursachen, haben 2023 deutlich weniger CO2 ausgestoßen. Damit haben beide die gesetzlichen Klimaziele weit übertroffen. In der Energieerzeugung machen sich der Rückzug aus dem Kohlestrom und der Ausbau erneuerbarer Energien bemerkbar: Knapp über die Hälfte des deutschen Stroms wurde aus Photovoltaik, Wind und Co. gewonnen und die Kohleverstromung hat einen "historischen Tiefstand" erreicht. Auch ließen mehr Stromimporte und ein krisenbedingt geringerer Verbrauch die Emissionen sinken.
"Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist entscheidend für eine rasche Emissionsminderung", heißt es auf Stimme-Anfrage aus dem Bundeswirtschaftsministerium. "Wir kommen auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stromversorgung sichtbar voran", erklärte auch Wirtschaftsminister Robert Habeck in einer Reaktion auf die Studie.
Deutsche CO2-Emissionen in Energie und Industrie sinken wegen Krise
In der Industrie ist die Produktion krisen- und konjunkturbedingt gerade in den energieintensiven Zweigen gesunken und deshalb weniger CO2 verursacht worden, so Agora. Habecks Erklärung: "Gut ist, dass in Klimaschutz und Energieeffizienz investiert wird. Nicht gut ist, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die von Putin gewollte Preiskrise zu Produktionsrückgängen führen."
Agora kritisiert jedoch: "Diese Emissionsminderungen sind nicht als klimapolitischer Erfolg zu werten und könnten schnell wieder ansteigen, sobald sich die Produktion erholt." Jörg Rothermel, Geschäftsführer des Verbands der energieintensiven Industrien in Deutschland ist trotzdem gelassen. Zwar steigen die Emissionen wieder, wenn die Produktion wieder hochfährt, "aber in der Regel nicht mehr auf den Stand vor der Krise". Denn die Unternehmen seien bestrebt, "ihre Produktion noch effizienter aufzustellen". Die kurzfristigen Möglichkeiten dafür seien aber schon "ziemlich ausgereizt". Nur ein weiter steigender Anteil an erneuerbaren Energien könne Abhilfe schaffen.
Das Wirtschaftsministerium weist zudem darauf hin, dass Firmen bald Klimaschutzdifferenzverträge mit dem Staat schließen können sollen. Die Idee: Die höheren Produktionskosten nachhaltiger Verfahren werden ausgeglichen.
Gebäude- und Verkehrssektor reißen Klimaziel und bleiben Sorgenkinder
Gebäude- und Verkehrssektor haben trotz der positiven Gesamtentwicklung erneut ihr Klimaziel verfehlt. Zwar wurde laut Agora im Gebäudesektor CO2 eingespart, jedoch liegt der Wert immer noch sieben Millionen Tonnen über dem Ziel. Selbst das Minus von drei Millionen Tonnen liege vor allem an den milden Temperaturen und am sparsamen Heizen in den Haushalten infolge der hohen Preise.
Für Bauingenieur Ronald Meyer, Vorstand des Bundesverbands Gebäudemodernisierung, ist klar: "Die beste Energie ist die, die wir gar nicht erst brauchen." Dafür gelte es, Gebäude besser zu dämmen und parallel die Heizungen auf klimaschonende Alternativen umzurüsten. Er kritisiert: "Ein Teil unserer Politik hat eine besondere Nähe zur alten Energiewirtschaft." Es brauche "einen entschlossenen und konsequenten deutschlandweiten Sanierungsfahrplan, um den Energieverbrauch und somit die CO2-Emissionen nachhaltig zu senken."
Das SPD-geführte Bundesbauministerium räumt ein: Trotz des Rekordtiefs hat der Gebäudesektor "Nachholbedarf". Abhilfe schaffen sollen die kommunale Wärmeplanung und Fördergelder für Kommunen und Bürger. Auch Habeck ist überzeugt, dass das reformierte Gebäudeenergiegesetz und die Förderung klimafreundlicher Heizungen "helfen, den CO2-Ausstoß zu senken. Und was den Verkehr anbetrifft, ist bekannt, dass wir ein Problem haben und hier mehr nötig ist".
FDP-Verkehrsministerium setzt auf E-Fuels und Homeoffice
Denn im Verkehrssektor sieht es wie in den Vorjahren schlecht aus. Nur drei Millionen Tonnen weniger CO2 wurden ausgestoßen und das Ziel um elf Millionen Tonnen verfehlt. Auch diese Einsparungen würden "nicht auf eine strukturelle Wende hinweisen", so Agora. Das FDP-Verkehrsministerium hält den Umstieg auf alternative Antriebe und Kraftstoffe für entscheidend.
Man wolle das Potenzial von E-Fuels nutzen, die irgendwann fossile Brennstoffe ablösen sollen, sowie mehr E-Autos auf die Straße bringen. Die Kaufprämie für E-Autos habe den Markthochlauf der Elektromobilität in Deutschland vorangetrieben, schreibt das Ministerium. Infolge der Haushaltskrise ist die E-Auto-Prämie inzwischen jedoch weggefallen. Auch mehr Homeoffice könne Verkehr reduzieren. Einen von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgeschlagenen Anspruch auf Homeoffice hatte die FDP bisher jedoch blockiert.
Zulassungszahlen von E-Autos steigen kaum
Weniger optimistisch sind die Studienautoren der Agora Energiewende. Der Spritverbrauch war 2023 etwa so hoch wie im Vorjahr, das Deutschlandticket habe keinen nennenswerten Minderungseffekt erzielt und die Zahl der Neuzulassungen von E-Autos sei zu gering, um das Ziel von 15 Millionen E-Autos bis 2030 zu erreichen. Laut Daten des Kraftfahrtsbundesamts ist der Anteil von E-Auto-Neuzulassungen von 17,7 Prozent im Jahr 2022 auf 18,4 Prozent nur leicht gestiegen - trotz der damals noch geltenden Kaufprämie.
Mit dem Verkehrssektor geht Agora hart ins Gericht. Es mangele an einer "überzeugenden Gesamtstrategie, um die notwendigen Emissionsminderungen zu erzielen". Es brauche eine Reform von Dienstwagen- und KfZ-Steuer, einen höheren CO2-Preis mit Rückzahlung über ein Klimageld, mehr Ladesäulen sowie den ÖPNV-Ausbau im ländlichen Raum.
Verkehrsverbände: Gesamtstrategie statt Kürzungen und Schwarzer Null
Die Verkehrspolitik der Ampel sorgt auch bei Verkehrsverbänden für Frust. So sehr, dass sich Allianz pro Schiene, die Lokführergewerkschaft EVG, IG Metall und die Fahrradverbände ADFC und Zukunft Fahrrad zusammengeschlossen haben. "Die Verkehrswende ist immer noch nicht im Kanzleramt und beim Bundeskanzler angekommen", kritisiert Dirk Flege von Allianz pro Schiene. Es fehle ein Gesamtkonzept für alle Verkehrsmittel, das die Ampel dem "Lobbyistengeschrei" entgegensetzen könnte.
Mehr noch: Wegen der Haushaltskrise will die Ampel in allen Bereichen kürzen. 300 Millionen Euro weniger für die Schiene, 44 Millionen Euro weniger für Radverkehr. "Jetzt ist nicht die Zeit zum Knausern", warnt EVG-Vorstand Martin Burkert. Die Ampel stehe sich mit ihrer "unsinnigen Schuldenbremse" selbst im Weg. Niemand werde sich in Zukunft bedanken, "wenn eine Schwarze Null da steht, aber die Infrastruktur zerbröselt".
Agora fordert: Ampel muss geplante Maßnahmen umsetzen und finanzieren
Das Fazit der Agora fällt überwiegend kritisch aus. Zwar habe die Ampel einiges auf den Weg gebracht, die Klimapolitik habe sich aber als "insgesamt herausfordernd erwiesen". Ausbau der Erneuerbaren, Klimaverträge in der Industrie, Wärmeplanung - überall sei es wichtig, begonnene Projekte umzusetzen. Inwieweit neue Maßnahmen angestoßen werden können, sei fraglich. Die Finanzierung sei ein großes Thema, schon vor der Haushaltskrise.
Trotz aller Unwägbarkeiten solle der historische Tiefpunkt im Jahr 2023 aber "als Ansporn dienen, um Deutschland auf Zielkurs für eine Treibhausgasreduktion von mindestens 65 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 zu bringen", schreibt Agora abschließend. Bisher sind die Zahlen eine erste Schätzung, die offiziellen Daten legt das Umweltbundesamt Mitte März vor.