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„Erhöhte Gewaltbereitschaft“: Jugendpsychiaterin ordnet Tat in Niedernhall ein

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Die Tat in Niedernhall, bei der ein Zwölfjähriger angefahren wurde und kurz danach starb, schockiert die Region. Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin erklärt, warum junge Menschen zu Tätern werden und wie Angehörige mit der Tat umgehen.


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Nach der Tat in Niedernhall erklärt Marianne Klein, weshalb junge Menschen zu Tätern werden und wie Angehörige mit der Tat umgehen. Die 58-Jährige ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin und leitet die Tagesklinik und ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie beim Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Winnenden.

Psychiaterin über Gewalttat in Niedernhall: „Erhöhte Gewaltbereitschaft in Gesellschaft“

Stellen Sie eine veränderte Gewaltbereitschaft junger Menschen in den vergangenen Jahren fest?

Dr. Marianne Klein: Ja. Das betrifft aber nicht nur junge Menschen, sondern alle Altersgruppen. Ein Beispiel sind körperliche Angriffe auf Notärzte. Wir stellen eine erhöhte Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft fest. Das merkt man auch in der Sprache, die verroht. Das Problem sehen wir überall.

Was sind denn die Gründe?

Klein: Das ist nicht wissenschaftlich belegt. Aber ich beobachte als Kinder- und Jugendpsychiaterin, dass in den vergangenen Jahren das Gemeinwohl eine immer geringere Rolle spielt. Das Wohl es des eigenen Ichs hat die höchste Priorität, das Individualrecht wird immer wichtiger. Ich sehe in unserer Welt eine politische Verrohung. Kinder sehen das, sie lernen am Modell. Die Grenze des Gegenübers wird bei dem eigenen Verhalten immer weniger berücksichtigt.

Was kann einen Menschen zu so einer Tat verleiten?

Klein: Das ist unterschiedlich. Diese Frage stellt man mir auch bei Begutachtungen von jungen Straftätern. Man muss sehen: Wie war die Situation? Wollte er seinen Begleiter beeindrucken? Wurde er angefeuert oder provoziert? Was für ein Mensch ist der Tatverdächtige? Ist er jemand, der sich schnell klein fühlt und auf Kosten anderer aufspielen muss? Hat er eine Erziehung genossen, in der ihm erklärt und vorgelebt wurde, was richtig und was falsch ist? Waren Drogen im Spiel? Ich denke, es war in Niedernhall auch eine besondere Konstellation, eine Verkettung unglücklicher Umstände. Antworten werden die polizeilichen Ermittlungen und die Gerichtsverhandlung bringen.

Psychiaterin über junge Tatverdächtige: „Reifegrad spielt eine Rolle“

Welche Rolle spielt das Alter eines Tatverdächtigen bei so einer Tat?

Klein: Der Reifegrad spielt eine Rolle, nicht das Alter. Ich gehe davon aus, dass er intellektuell nicht wesentlich beeinträchtigt ist, sonst hätte er keinen Führerschein mit 18 Jahren erhalten. Dies sagt jedoch nichts über seine emotionale, soziale und moralische Reife aus. Diese kann bei einem 18-Jährigen durchaus noch jugendlich sein, so dass er zu unüberlegtem, Folgen nicht berücksichtigendem Handeln neigt.

Wie geht ein so junger Tatverdächtiger mit den Folgen seines Handelns um?

Klein: Ich bin mir ziemlich sicher, dass er geschockt ist. Es kann sein, dass er zwar die Tat billigend in Kauf genommen hat, der Tod des Jungen aber nicht beabsichtigt war. Möglich ist, dass er die Schuld von sich weist, weil er seine Schuldgefühle nicht aushalten kann, sie verdrängt. Es ist aber auch möglich, dass ihn seine Schuldgefühle zermürben, er selbst auch Hilfe benötigt, um daran nicht zu zerbrechen. Sicher ist jedoch eines: ohne Schuldgefühle findet kein Lernen für künftiges Verhalten statt.

Zur Person

Dr. Marianne Klein ist ärztliche Leiterin der Tagesklinik und ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie beim Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Winnenden, einer Außenstelle des ZfP Weinsberg. Dort war die 58-Jährige langjährige Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie ist Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und lebt im Landkreis Heilbronn.

Welchen Einfluss haben Computerspiele auf die Gewaltbereitschaft junger Menschen?

Klein: Computerspiele oder soziale Medien haben einen Einfluss auf junge Menschen. Sie sind ein Faktor. Der eine ist empfänglicher, der andere weniger. Oft stellt sich die Frage, welche Vorbilder junge Menschen haben. Was ist männliches Verhalten und was nicht? Welchen Einflüssen sind sie ausgesetzt?

Nach Tat in Niedernhall: „Tod des Kindes für Eltern einschneidendste, negative Erfahrung“

Wie kann die Familie den Tod des Jungen verarbeiten?

Klein: Der Tod eines Kindes oder Jugendlichen ist für Eltern die nahezu einschneidendste negative Erfahrung, die sie machen können. Zunächst erleben sie tiefen Schmerz, Trauer und Wut. Es ist wichtig, dass diese Gefühle nach außen treten dürfen. Essentiell ist, dass Eltern nicht alleine mit dem Schmerz gelassen werden. Das gilt nicht nur für die Anfangszeit, sondern auch für lange Zeit danach.

Nach einer solchen Tat sind die Gedanken bei den Opfer-Familien. Was aber passiert in den Täterfamilien?

Klein: Ganz viel Scham, Schuldgefühle. Das wird oft noch stärker, je nachdem, wie das Umfeld reagiert. Es kann soziale Ächtung der Familie entstehen, was sehr belastend ist. Die Familie steht in dem Konflikt zwischen Verurteilung des Verhaltens ihres Kindes und grundsätzlichem Beistehen zu ihrem Kind. Familien fühlen zumeist eine Mitschuld und brauchen auch oft fachliche Hilfe, um die Auswirkungen der Tat ihres Kindes zu bewältigen.

Gewalttat in Niedernhall: Wie Kinder unterstützt werden können

Welche Unterstützung braucht das Kind, das den Tod seines Freundes miterleben musste?

Klein: Das ist je nach Kind unterschiedlich. Unterstützung sollte zunächst aus der eigenen Familie kommen. Auch hier kann der Krisendienst helfen. Wichtig ist, dass nicht geschwiegen wird. Der Jugendliche muss die Möglichkeit haben Worte für seine Gefühle und Gedanken zu äußern. Man darf ihm das aber auch nicht aufzwingen. Man sollte ihm Halt und Sicherheit geben, für ihn da sein, wenn er es braucht. Wenn sich seine Eltern große Sorgen machen, sollten sie sich professionelle Hilfe suchen. 

Wie geht die Schule idealerweise mit dem Tod des 12-Jährigen um?

Klein: Sie sollte einen Ort des Gedenkens bieten, wo es Möglichkeiten gibt, Worte zu finden. Und in den nächsten Tagen noch einmal darauf eingehen. Vielleicht auch einen Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologen hinzuziehen.

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