Trendforscher Marcel Aberle: Was jetzt in der Heilbronner Innenstadt passieren muss
Die Welt befindet sich in Konfusion, warnt der Zukunftsforscher Marcel Aberle mit Wurzeln in Schwaigern. Mit Blick auf die Heilbronner Innenstadt ist er überzeugt, dass nur eine Sache wirklich hilft.

Marcel Aberle genießt die Zeit zwischen den Jahren gerne in der alten Heimat. Ansonsten ist aus dem Schwaigerner inzwischen ein Wiener geworden. Als Trendforscher beschäftigt er sich mit den großen Linien: Wie verändert sich die Welt? Was können wir tun, um die Zukunft in unserem Sinne zu gestalten?
Im Interview mit unserer Redaktion geht er auch auf die Spaltung unserer Gesellschaft ein.
Marcel Aberle, zum Jahreswechsel war wieder Hochkonjunktur für Zukunftsforscher. Momentan scheint es aber wirklich viele offene Fragen zu geben, die die Menschen umtreiben.
Marcel Aberle: Stimmt, momentan kommt einiges zusammen. Das lässt sich sogar in Heilbronn prototypisch beobachten. Auf der einen Seite die dynamische Entwicklung auf dem Bildungscampus und beim Thema KI. Auf der anderen Seite die Rückschritte in der Innenstadt, wo jetzt auch noch das Modehaus Palm schließt. Ich war baff, als ich das gehört habe. Das ist auch sinnbildlich für die gesellschaftliche Transformation, die wir gerade erleben. Und wenn wir dann noch die Proteste der Bauern, gegen die AfD und so weiter beobachten, sehen wir, dass viel in Bewegung gerät.
Mit Blick auf die Innenstädte – Heilbronn steht da nicht allein: Wie kann man erklären, was da vor sich geht?
Aberle: Das passende Modell ist alt, aber nach wie vor aktuell. Der sogenannte Adaptive Loop beschreibt, wie Systeme, Unternehmen oder auch Gesellschaften aus einer dynamischen Wachstumsphase in eine Sättigungsphase wechseln. Dann kommt irgendwann die Krise. Sie führt zu einer großen Konfusion und Verunsicherung, die aber zugleich die Chance bietet, sich neu zu erfinden und über Innovationen wieder auf den Wachstumspfad einzuschwenken. Das muss jetzt auch in Heilbronn passieren.
Okay, wir sind also in der Krise, wenn ich das richtig verstanden habe. Was braucht es genau, um da rauszukommen?
Aberle: Es braucht Zukunftsbilder, die eine Sogwirkung entfalten. Ich habe auch keine Angst vor dem Wort Visionen. Wir tun uns in Deutschland leider schwer damit. Auch die Unternehmen. Da wird allenfalls die Chance genutzt, kleine Schnellboote auszusetzen, um etwas zu testen. Doch die großen Tanker bleiben meist auf Kurs. Ein Gegenbeispiel kommt aus den USA. Da hat es Microsoft geschafft, sich unter seinem Chef Satya Nadella vom klassischen Produkt- zum Service-Anbieter zu transformieren. Zugegeben, das gelingt Unternehmen in dieser Größenordnung selten.
Was war die Strategie?
Aberle: Nadella hat Führungskräfte an entscheidenden Positionen ausgetauscht. Denn es hängt an den Menschen, die diese Veränderung auch leben müssen.
Alle Leute auszutauschen, das ist natürlich die harte Tour.
Aberle: Ja, das ist der amerikanische Weg. Aber wenn ich mir anschaue, wie deutsche Autobauer mit der Transformation umgehen, dann muss schon etwas mehr passieren. Wenn ich Audi-Mitarbeiter höre, die sagen, der E-Tron GT wäre ein tolles Auto, wenn er doch nur einen V12 hätte. Mit so einer Einstellung tut man sich schwer, überzeugende Elektroautos zu bauen.
Noch einmal kurz zurück in die Innenstadt. Wie könnte hier eine Veränderung angestoßen werden?
Aberle: Über Visionen. Wie soll es sich anfühlen, wenn ich 2034 durch die Heilbronner Innenstadt spaziere? Das wäre ein Startpunkt. In New York wurde auf Plakaten der David Prize ausgelobt: Jeweils 200.000 Dollar für die fünf besten Visionen für die Stadt. Ich würde mir wünschen, dass das hier auch funktioniert.
Aber? Sind wir zu vorsichtig?

Aberle: Ja, vielleicht. In den USA ist alles auf den großen Geschichten aufgebaut, das typische "Vom Tellerwäscher zum Millionär". Das hat auch Nachteile, ganz sicher. Aber momentan würde uns ein wenig von dieser Mentalität unglaublich guttun, weil dadurch Kräfte gebündelt werden. Man bekommt ein positives Bild gezeigt, für das es sich lohnt zu arbeiten und zu kämpfen. Das fehlt momentan in Deutschland, das fehlt auch für die Innenstadt von Heilbronn. Der Rest läuft ja sehr gut. Und dafür gibt es ja auch klare Zukunftsbilder.
Momentan überwiegen bei den meisten Menschen die Bilder, die Angst machen: KI, Krieg und Krise.
Aberle: Ja, wir sind eben in der Konfusionsphase. Und als jemand, der Deutschland inzwischen vor allem von außen betrachtet, ist der Stimmungsumschwung in den vergangenen zwei Jahren besorgniserregend. Es wundert mich angesichts der vielen parallelen Krisen auch nicht, dass die Politik mit ihren derzeitigen Strukturen darauf nicht die richtigen Antworten findet. Das politische System wird man nicht verändern können. Aber die Akzeptanz in der Bevölkerung für politische Entscheidungen und Entscheidungsprozesse lässt sich durchaus auch wieder verbessern.
Hoffentlich, denn unsere Gesellschaft ist schon ziemlich tief gespalten. Da versammeln sich nicht mehr alle hinter einer Regierung - auch wenn wir jetzt die Protestmärsche für die Demokratie erleben. Wie kann Spaltung überwunden werden?
Aberle: Das Zukunftsinstitut und das Nextpractice Institut haben vor einiger Zeit ein Modell vorgestellt, das den Aufbruch in eine neue, progressive Wir-Gesellschaft beschreibt. Demnach ist die Gesellschaft bisher geteilt und lebt auf zwei Inseln. Auf der einen gibt es die linke Erzählung einer offenen, multikulturellen Weltgesellschaft. Auf der anderen die rechte Erzählung vom geschlossenen, identitären Nationalstaat. Jeder sieht auf seiner eigenen Insel nur die Vorzüge, auf der anderen nur Nachteile. Brücken zwischen diesen Inseln gibt es nicht. Und beide scheitern. Unsere Gesellschaft muss zur neuen, dritten Insel aufbrechen. Dort gibt es eine überzeugende, begeisternde Deutung der Komplexität unserer Welt. Ideen aus dem städtischen und dem ländlichen Raum werden kombiniert, generationenübergreifende Ansätze verfolgt. Dort schafft man Vorbilder für Veränderung.
Wo stehen wir also?
Aberle: Wir müssen uns jetzt eingestehen, dass wir genau in der Transformation sind, in der Krise. Zugleich müssen wir aber weg von der reinen Fokussierung auf Probleme und auf das Negative. Zeiten des Umbruchs waren schon immer sehr spannende und unheimlich unternehmerische Zeiten. So sollten wir sie auch sehen. Dafür benötigen wir aber auch wieder echte Anführerinnen und Visionäre an den Entscheidungshebeln, keine Verwalterinnen und Optimierer.
Zur Person: Marcel Aberle (40) ist in Schwaigern aufgewachsen und lebt seit 13 Jahren in Wien. Über Stationen unter anderem bei Siemens kam er zum Zukunftsinstitut, das 1998 von Matthias Horx gegründet wurde. Dort arbeitete er unter anderem als Geschäftsführer und Trendforscher. Inzwischen ist er selbstständig als Redner, Berater und Autor tätig.