Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen Merken

Vier Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen: "Wir haben einfach Ja gesagt"

   | 
Lesezeit  5 Min
Erfolgreich kopiert!

Von Gästen zu Mitbewohnern: Henrik May teilt seit einem halben Jahr mit vier ukrainischen Geflüchteten sein privates Reich.

Henrik May hat eine Affinität zu Design und war früher eher schlicht eingerichtet. Jetzt gibt es im Wohnzimmer jede Menge Spiele für die ukrainischen Mädchen.
Henrik May hat eine Affinität zu Design und war früher eher schlicht eingerichtet. Jetzt gibt es im Wohnzimmer jede Menge Spiele für die ukrainischen Mädchen.  Foto: Berger, Mario

In Zeiten vieler Krisen sind sie etwas in Vergessenheit geraten: Die Menschen, die Geflüchtete aus der Ukraine selbstlos in ihr eigenes Haus aufgenommen haben und ihnen immer noch ein Dach über dem Kopf bieten.

Henrik May aus Heilbronn hat die Türen seines Heims seit 7. März weit geöffnet. Seit sechs Monaten lebt Nastia Kolomiiets mit ihren Kindern Dana (6) und Alice (2) sowie ihrer Mutter bei ihm und seiner 18-jährigen Tochter im Zimmer des ausgezogenen Sohnes in der Wohnung - mit open end. Über gelebte Gastfreundschaft im Alltag erzählt Henrik May im Interview.

Herr May, ist es Erziehung oder Ihre dänische Herkunft: Woher kommt Ihre Gastfreundschaft?

Henrik May: Es ist meine Überzeugung, dass man sich gegenseitig helfen muss. Ich bin ja auch Ausländer hier. Aber der Grund, warum ich jetzt gerade den Ukrainern helfe, ist, dass ich eine persönliche Verbindung habe. Ich habe alte Freunde aus der Ukraine, ich war schon dort und habe einen Bezug zum Land, und das hat sicher eine wesentliche Rolle gespielt.


Wie kam es Anfang März konkret zu Ihrer Entscheidung?

May: Ich habe einen guten Freund, dessen Frau aus der Ukraine kommt. Plötzlich brach Krieg aus, und es musste alles sehr schnell gehen. Keiner wusste, was auf uns zukommt. Samstags habe ich ihm versprochen, dass ich bereit bin zu helfen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Sonntag ist er zur polnisch-ukrainischen Grenze, hat die Familie abgeholt, und Montagnachmittag waren sie hier. Von dem Moment an, als ich gesagt habe, das machen wir, hat es 48 Stunden gedauert, bis sie hier waren. Wir waren wirklich nicht darauf vorbereitet.


Mehr zum Thema

Die größte gemeindeeigene Flüchtlings- und Obdachlosenunterkunft in der Hauptstraße 33/1 ist seit einem Brand im August unbewohnbar.
Foto: Susanne Schwarzbürger
Stimme+
Kirchardt
Lesezeichen setzen

Unterbringung von Flüchtlingen: Kirchardt hat kein Bett mehr frei



War es von Anfang an klar, dass Sie eine Familie mit vier Personen nehmen würden?

May: Nein. Ich habe gesagt, ich habe ein Zimmer zur Verfügung, egal für wie viele Leute, weil mein Sohn Rasmus ausgezogen ist. Man muss ja auch die Räumlichkeiten haben, es ist ja nicht nur die Frage, ob man helfen möchte.


Also reine Privatinitiative, die Stadt hatte damit nichts zu tun?

May: Die Stadt, das Land, sie haben dem Thema hohe Priorität eingeräumt. Erstmal waren aber alle überfordert. Anfangs kam ja eine Welle, da konnte man nicht lange nachfragen. Man musste schnell reagieren.

Die Familie, die jetzt hier lebt, kam aus einer Tiefgarage in Kiew, wo sie in den Bombennächten Schutz gesucht hatte. Sie brauchte einen sicheren Rahmen, ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen. Wir haben schnell ein extra Beistellbett organisiert, einen Kinderwagen, damit sie mobil sind. Und Kleidung, denn sie hatten nichts außer dem, was sie am Leib trugen und eine kleine Tasche.

Ich habe Freunde angeschrieben, ob jemand Kleider und Spielzeug hat. Die Hilfsbereitschaft war sehr groß. Wir haben ja nicht gewusst, ist es für eine Woche oder zwei, wir haben einfach Ja gesagt. Dass wir jetzt sechs Monate später immer noch zusammen wohnen, das hätte damals keiner geglaubt.


Wie war die Umstellung für Sie mit den Gästen in der Wohnung?

May: Wir mussten uns auch erstmal finden. Meine Tochter Ida Maria, die hier wohnt, aber auch meine 15-jährige zweite Tochter, die sehr viel hier ist, die fanden das super und zeigten viel Hilfsbereitschaft. Ich habe ein paar Tage weniger gearbeitet, um alles zu organisieren, Behördengänge zu machen, sie anzumelden, mit meiner Versicherung zu reden. Zum Glück spricht die Mutter, Nastia, sehr gut Englisch, sonst wäre es auch mit der Kommunikation schwieriger gewesen.


Hat das Zusammenleben Ihre Familie verändert?

May: Ja, ich finde, es ist ein wichtiges Statement, dass wir helfen. Das ist unsere gemeinsame Verpflichtung. Das ist ja nicht nur eine Aufgabe von mir, sondern meine Töchter sind auch mit eingebunden. Helfen heißt auch, zu zeigen, wo gibt es Spielplätze. Oder dass Ida Maria mit der sechsjährigen Dana losgeht, um ein Eis zu kaufen. Oder dass sie etwas spielen.


Und Sie, hat es Sie verändert?

May: Ja, ich bin aus der Komfort-Zone rausgekommen, weil ich das noch nie gemacht habe. Keiner wusste, was auf uns zukommt. Sie hätten auch traumatisiert sein können. Die Männer leben noch, aber das hätte sich ändern können. Das wussten wir alles nicht. Und dann muss ich auch Vertrauen haben. Die Familie wohnt hier, sie hat einen Schlüssel. Ich war jetzt vier Wochen im Urlaub in Dänemark, da hat sie die Wohnung für sich alleine gehabt, das ist eben wie Zuhause.


War das schwierig?

May: Das hat sich entwickelt. Anfangs waren sie Gäste, jetzt sind sie Mitbewohner. Man kann über einen so langen Zeitraum keine Gäste haben. Wir sind jetzt wie eine WG.

Wir haben einen Rhythmus gefunden, am Tisch werden vier Sprachen gesprochen, deutsch, englisch, dänisch, russisch. Wir essen oft gemeinsam. Wenn man so lange Mitbewohner hat, muss man gewisse Werte teilen, auf einer Wellenlänge sein. Wenn ich mich nicht wohlfühlen würde oder wenn sie nicht auf die Sachen aufpassen würden, dann wäre es schwierig. Aber das ist eine wunderbare Familie. Und alle haben Pflichten und Rechte.


Haben Sie ein Beispiel?

May: Unter der Woche kocht häufig Natascha, die Oma. Samstag war ich einkaufen, da machen wir einen gemeinsamen Einkaufszettel. Ich habe am Wochenende mit den Mädchen Pizza gemacht. Auch mit Dana und der zweijährigen Alice.

Ich will keine Miete, ich mach das nicht aus finanziellen Gründen. Aber wir teilen uns die Lebensmittelkosten. Gestern waren wir zu acht im Bowling-Center in Neckarsulm. Wir unternehmen einiges, aber es gibt auch Tage, an denen wir uns tagsüber kaum sehen. Manchmal bin ich auch beruflich weg. Sie haben ihren Alltag, sie kommen wunderbar klar.


Also ein Glücksfall, dass es so gut gepasst hat?

May: Absolut. Wenn es gehakt hätte, wären sie drei, vier Wochen hier gewesen, und dann hätte ich sie bitten müssen, etwas anderes zu finden. Wir rücken zusammen und gehen Kompromisse ein. Wenn mein Sohn länger da ist, kann er auch bei seiner Mutter übernachten, sie wohnt nicht weit weg. Wenn er nur ein Wochenende kommt, schläft er hier auf dem Sofa. Das ist der Preis, der gezahlt werden muss.

Wenn sie fragen, wie sie uns danken können, sagen wir, dass sie uns mal zum Abendessen in Kiew einladen können. Das ist unser Ziel, wir werden sie besuchen. Das wird eine lange Freundschaft.


Mann und Vater der jungen Mutter sind in Kiew. Wie ist da die Lage? Belastet auch Sie das?

May: Ja, aber in Kiew ist es relativ sicher. Sie sprechen jeden Tag mit ihrer Familie auf Facetime. Nastia, die Mutter, tut alles, um den Kindern positive Werte zu vermitteln, optimistisch zu sein. Ich will nicht sagen, bei der Mehrheit der Menschen ist der Krieg in Vergessenheit geraten, aber es gibt so viele Probleme gerade, Energiekrise, Inflation. Aber hier bei uns ist der Krieg noch sehr präsent. Wir sind mittendrin.


Bedauern Sie das nachlassende Interesse? Denn die Unterbringung von Geflüchteten ist ja wieder ein riesen Thema.

May: Die erste Welle ist vorbei, trotzdem ist der Bedarf groß. Ich habe gesagt, sie können so lang bleiben wie sie möchten. Ich mache da keinen Druck. Aber irgendwann möchten sie natürlich selbst etwas anderes finden. Sie suchen schon, aber es ist schwierig, Alternativen zu finden.

 
Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
  Nach oben