Mutmaßliches Opfer fühlt sich alleingelassen
Eine Frau aus dem Landkreis Heilbronn erstattet Anzeige wegen eines sexuellen Übergriffs. Der Fall landet vor Gericht. Zwei Jahre später gibt es noch immer keine endgültige Entscheidung. Die Frau erzählt, wie sie das Verfahren erlebt.
Eine Frau wird nach eigenen Angaben in einer Praxis für Physiotherapie Opfer eines sexuellen Übergriffs. Sie entschließt sich, den Mann anzuzeigen. Das war 2020. Zwei Jahre später gibt es nach wie vor kein Urteil. Ein Erfahrungsbericht.
Elke Hocher (Name von der Redaktion geändert) lebt in einer Landkreisgemeinde – mittleres Alter, flotter Kurzhaarschnitt, schlanke Statur. Sie spricht überlegt, aber schnell. Unterdrückte Wut schwingt in der Stimme mit. Wut auf den mutmaßlichen Täter, auf Rechtsanwälte und Gericht.
Frau erstattet Anzeige
Ein Mitarbeiter einer Physio-Praxis soll während der Behandlung Elke Hochers hilflose Lage ausgenutzt, sie an intimen Stellen angefasst, erniedrigt haben. Sie war überfordert, geschockt. In den ersten Tagen danach dachte sie: „Das stecke ich weg.“ Dennoch erstattete sie Anzeige. Auch, weil die Polizei sie dazu ermutigte. „Ich fühlte mich außerdem dazu verpflichtet zum Schutz anderer Patientinnen.“
Mutmaßliches Opfer empfindet Befragung als aggressiv
Unterstützung fand Elke Hocher in der Opferorganisation Weißen Ring. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Monate nach der Tat folgte die erste Anhörung vor dem Heilbronner Amtsgericht. Diese ist ihr als blanker Horror in Erinnerung. Mehr als eine Stunde sei sie von der Verteidigerin des Beschuldigten in die Zange genommen worden. Die Verteidigerin sei ihr gegenüber unbeherrscht, fordernd, dominant aufgetreten. „Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und wollte sogar wissen, welche Farbe meine Unterhose hatte.“ Die Befragung habe ihr das Gefühl vermittelt, sie sei die Täterin, nicht das Opfer.
Dabei hat ein Gericht auf ein „faires Verfahren“ zu achten, wie Michael Reißer, Pressesprecher des Amtsgerichts Heilbronn, mitteilt. Es könne ein Verfahren unterbrechen, um die Wogen zu glätten, und einzelne Fragen zurückweisen. Zwar sollten sich alle Beteiligten von sich aus an das Verfahrens- und Standesrecht gebunden fühlen. Es gibt aber keine gesetzliche Handhabe, wenn jemand dies nicht tut und vor keinem Grenzübertritt zurückschreckt.
Beschuldigter legt ärztliches Attest vor
Zur Hauptverhandlung kam es nicht. Der Beschuldigte reichte ein ärztliches Attest ein, wonach er gesundheitliche Probleme hat. Das Herz. Die Strapazen einer Verhandlung und emotionale Aufregung seien ihm nicht zuzumuten, hieß es. Das Verfahren ruhte. Weitere Monate vergingen. Wer nicht zur Ruhe kommt, ist Elke Hocher. Aus ihrer Sicht konzentriert sich in einem Verfahren alles auf den Beschuldigten. „Es dreht sich alles nur um ihn. Es heißt, er sei krank. Und was ist mit mir?“ Sie leidet unter Panikattacken und Schlafstörungen. Sie nimmt ärztliche Hilfe in Anspruch.
Das Geschehen holt Hocher immer wieder ein. Sie könne nicht abschließen, solange das Gerichtsverfahren schwebt. Dass ein schlichtes Attest ausreicht, ein Verfahren lahmzulegen, ohne detaillierte Unterlagen eines Facharztes oder ein dokumentierter Krankenhausaufenthalt, will ihr nicht in den Kopf. „Ein einfaches Attest ist in der Regel nicht ausreichend“, teilt auch Gerichtssprecher Reißer mit. Das Gericht könne eine Bescheinigung eines Amtsarztes verlangen. Es liege im Ermessen des Richters, Nachforschungen zu tätigen.
Normalerweise dauern Verfahren im Schnitt sechs Monate
Vor einigen Tagen erhält Hocher ein Schreiben. Das Verfahren sei wegen der Erkrankung des Beschuldigten auf ein Jahr ausgesetzt, man beabsichtige nicht, es wieder aufzunehmen. Die endgültige Entscheidung darüber solle in einem Jahr getroffen werden. Das wäre Ende 2023. In dem Schreiben wird auf einen Täter-Opfer-Ausgleich verwiesen. Ein ungewöhnlicher Fall. „Nach Anklageerhebung dürfte ein Urteil in der Regel innerhalb von sechs Monaten erfolgen – oftmals deutlich weniger als sechs Monate“, teilt Reißer mit.
Elke Hocher würde rückblickend nicht noch einmal Anzeige erstatten. „Es ist schlimm, das zu sagen.“ Eigentlich sollten Betroffene von Gewalt dazu ermutigt werden.
So viele Fälle bearbeitet das Amtsgericht
Dass ein Verfahren derart lange dauert, ist selten. Nach Angaben des Heilbronner Amtsgerichts sind im vergangenen Jahr folgende Verfahren eingegangen: 2418 Strafsachen, erledigt wurde 2637. Dazu kamen 3152 Zivilverfahren, 3313 wurden abgeschlossen. Das Familiengericht verbuchte 3063 Neuzugänge und 3079 Erledigungen.