Heilbronner Raserprozess: Richter halten sich Mordurteil weiter offen
Der 21 Jahre alte Angeklagte könnte laut Landgericht ein Mörder sein, obwohl er seine Opfer erst gesehen hat, als er nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Die Verteidigung hält das für absurd. Wie ein Heilbronner Verkehrsrechtsexperte den Fall einschätzt.

Der sogenannte Raser-Prozess vor dem Heilbronner Landgericht hat offenbar das Zeug, deutsche Rechtsgeschichte zu schreiben.
Hintergrund ist der zweite rechtliche Hinweis des Vorsitzenden Richters Alexander Lobmüller am vergangenen Montag. Demnach hält sich das Gericht weiter offen, den 21-jährigen Angeklagten unter anderem wegen Mordes und dreifachen versuchten Mordes zu verurteilen. Und das, obwohl es dem Angeklagten laut dem verkehrsrechtlichen Sachverständigen Andreas Förch am 12. Februar 2023 aufgrund seiner viel zu hohen Geschwindigkeit nicht möglich gewesen war, den tödlichen Unfall in der Wollhausstraße zu dem Zeitpunkt zu verhindern, als er den aus einer Ausfahrt fahrenden Mercedes der Opfer-Familie sehen konnte. Laut Lobmüller entschied "eine Sekunde über Leben und Tod".
Raserprozess Heilbronn: Richter zu Voraussetzungen für Mordurteil
Voraussetzung für einen Schuldspruch wegen Mordes sei laut Lobmüller, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt, als er den Unfall noch hätte verhindern können, bereits "bedingten Tötungsvorsatz gehabt haben könnte". Und zwar "bezüglich eines Fahrers und dessen möglicher Mitfahrer, die mit ihrem Fahrzeug aus einen Parkplatz, einer Seitenstraße, einem Hinterhof oder einer Tiefgaragenausfahrt in die Wollhausstraße einfahren könnten". Und dass das Opfer zu diesem Zeitpunkt "arglos und aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos gewesen wäre". Und darüber hinaus dem Angeklagten zum Zeitpunkt, an dem er den Unfall noch hätte verhindern können - also als er das ausfahrende Fahrzeug noch nicht gesehen hat – bewusst gewesen wäre, dass ein in die Wollhausstraße einbiegender Fahrer samt Insassen nicht mit einem heranrasenden Fahrzeug rechnen konnten und so arg-, wehr- und schutzlos gewesen sein könnten.
Raserprozess: Verteidiger halten die Argumentation der Richter für absurd
Die Verteidigung hält diese Argumentation für absurd. "Sie versuchen hier etwas hin zu drehen", sagte Verteidiger Stefan Lay in Richtung Richterbank. Für Rechtsanwältin Anke Stiefel-Bechdolf würde mit einem Mordurteil auf dieser Argumentationsgrundlage jede Tempoüberschreitung zu einer Straftat werden. Nach dem Motto: Es könnte ja etwas passieren. "Für Geschwindigkeitsüberschreitung haben wir einen Bußgeldkatalog", so Stiefel-Bechdolf.
Kann also ein Autofahrer wegen Mordes verurteilt werden, weil er einen bedingten Tötungsvorsatz gefasst hat, noch bevor er das gegnerische Fahrzeug überhaupt gesehen hat? Der Heilbronner Rechtsanwalt und verkehrsrechtliche Experte Dieter Roßkopf hält das für möglich. "Dass Verantwortlichkeit vorverlagert wird, ist der Rechtsprechung nicht völlig fremd", sagt Roßkopf auf Anfrage der Heilbronner Stimme.
Zwar gehe es im Grundsatz darum, "was ein Täter angesichts einer konkreten Gefahr gemacht hat", so Roßkopf. "Es kann sich aber auch nicht jemand in eine Situation bringen, von der er weiß, dass er keine Handlungsmöglichkeit mehr hat, um dann zu sagen, er konnte es nicht mehr verhindern."
Verkehrsrechtlicher Experte: Ohne Tatbestand gibt es keine Anklage
Das Argument, dass nach der Logik jeder Temposünder zum Straftäter werden kann, zieht laut Roßkopf nicht. "Wir brauchen immer einen Tatbestand. Ohne Leiche kein Tötungsdelikt, ohne Verletzten keine Körperverletzung." Alles andere bleibe fiktiv und habe keine rechtliche Konsequenz. "Wo ich deliktisch lande, hängt also gerade im Straßenverkehr immer auch vom Zufall ab", so der Verkehrsrechtsexperte.
Klar sei laut Roßkopf, "dass Mord der schlimmste Tatvorwurf im Straßenverkehr ist". Der rechtliche Hinweis des Gerichts sei richtig. "Das Urteil"muss aber sehr gut begründet sein ". Der Experte glaubt, dass "dieses sehr anspruchsvolle Verfahren nicht in Heilbronn abschließend entschieden wird". Roßkopf hält es für wahrscheinlich, dass je nach Urteil die eine oder andere Seite vor den Bundesgerichtshof ziehen wird. Wie die höchsten deutschen Richter entscheiden, sei nicht vorhersagbar.