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Nach Hamas-Terror: Viele Heilbronner Juden haben große Angst

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Viele haben Familie in Israel, auch beim Militär, um deren Leben sie fürchten. Sie fragen sich auch, wie es mit ihrem Staat weitergeht, mit dem Antisemitismus. Günter Spengler über die Situation der jüdischen Gemeinde von Heilbronn nach dem Hamas-Terror.

Seit wenigen Jahren feiert die jüdische Gemeinde im Dezember an einem großen Leuchter an der Allee 4 das Chanukka-Fest. Ob es dieses Jahr wieder öffentlich begangen wird, ist noch offen.
Foto: Archiv/Berger
Seit wenigen Jahren feiert die jüdische Gemeinde im Dezember an einem großen Leuchter an der Allee 4 das Chanukka-Fest. Ob es dieses Jahr wieder öffentlich begangen wird, ist noch offen. Foto: Archiv/Berger  Foto: Berger

Der Terror der Hamas auf Israel trifft Juden in aller Welt tief ins Herz. Die jüdische Gemeinde von Heilbronn will sich derzeit nicht öffentlich dazu äußern.

Nach dem Hamas-Terror: Viele Heilbronner Juden haben große Angst

"Alle sind quasi in Schockstarre", weiß Günter Spengler vom Freundeskreis der Synagoge.


 

Herr Spengler, wie geht es den Juden in Heilbronn in diesen Tagen des Terrors gegen Israel?

Günter Spengler: Sehr, sehr schlecht. Sie haben große, ganz schlimme Angst. Viele haben Familie in Israel, auch beim Militär, um deren Leben sie täglich fürchten. Sie fragen sich auch, wie es mit ihrem Staat weitergeht, mit Beziehungen zu anderen Staaten, nicht nur im Nahem Osten. Der Schock sitzt tief. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie tief das reingeht. Viele jüdische Mitbürger haben auch große Sorge, was sich hier in Deutschland entwickelt.

 

Was meinen Sie damit, den Antisemitismus?

Spengler: Ja. Dass sich in unseren Städten, auch in Heilbronn, bei einseitigen Pro-Palästina-Demos so viele zeigen, die Israel zum Einlenken auffordern und teils offen die Hamas unterstützen. Das löst zusätzlich Ängste aus.

 

Wie sieht denn derzeit das Gemeindeleben aus?

Spengler: Im Augenblick herrscht Stillstand, weil viele zu Hause bleiben und auch sonst nicht in die Stadt gehen. Obwohl Juden sagen, hier in Heilbronn ist es vergleichsweise ruhig, anders als in Großstädten wie Frankfurt oder Berlin, wo viele von ihnen Verwandte haben.

 


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Wird freitagabends mit dem Shabbat begonnen?

Spengler: In Heilbronn ist sowieso nur alle zwei Wochen freitags Gottesdienst. Aber seit dem Massaker vom 7. Oktober gab es keinen mehr.

 

Gibt es am Gemeindezentrum an der Allee denn spezielle Sicherheitsvorkehrungen? Ich habe eine Videokamera gesehen und die Tür ist aus Stahl.

Spengler: Ja. Seit einigen Jahren gibt es einen sehr, sehr intensiven Kontakt zwischen der jüdischen Gemeinde und der Polizei. Vor jeder Veranstaltung gibt es Absprachen, stets sind dann Polizisten präsent, freitags beim Shabbat-Gebet, bei der Chanukka-Feier im Dezember, selbst beim Sommerfest. Und bei bestimmten Demonstrationen wird der Zug weit um das am Gemeindezentrum an der Allee geleitet.

 

Wie viele Juden leben eigentlich in Heilbronn?

Spengler: Das ist schwer zu sagen. Bei der Israelitischen Gemeinschaft Württemberg sind 80 Heilbronner eingeschrieben. Die Zahl ist rückläufig, vor 20 Jahren waren es doppelt so viele. Es waren ja vor allem Ältere, die in den 1990ern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus der ehemaligen Sowjetunion hierherkamen. Die hielten sich immer im Hintergrund. Es gibt aber auch viele, die sich nicht einschreiben und sich auch in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen geben, die sich lieber bedeckt halten.


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Liegt das an Anfeindungen?

Spengler: In Heilbronn eher nicht. Hier dürfte das an Sprachbarrieren liegen und am Alter. Es gibt bei Juden aber auch eine grundsätzliche Scheu. Ich hatte dazu eine aufschlussreiche Begebung. Ein 13-jähriger Bub sagte mir auf die Frage, was er sich denn wünsche zu Bar Mizwa, also quasi zur Konfirmation: ,Dass alle in meiner Klasse sagen können, wo sie religiös dazugehören, ohne dass sie ausgelacht oder gehänselt werden." Ähnliches sagte mir eine Grundschülerin. Das zeigt, unser Zusammenleben ist eben doch nicht so entspannt und gut, wenn Juden nicht offen sagen können: Jawoll, ich bin Jude. Selbst Männer trauen sich nicht, in der Öffentlichkeit ihre Kippa zu tragen, also ihre Mütze.

 

Avital Toren, die Gemeindevorsteherin, berichtete mir einmal von ähnlichen Anfeindungen im Alltag. Woher kommt eigentlich dieser latente, strukturelle, ja, dieser scheinbar ewige Antisemitismus?

Spengler: Die Wurzeln sind vielfältig und reichen auch ins Christentum, das das Judentum über Jahrhunderte als dunkle Folie gegenüber dem hellen Christenglauben benutzt hat. Erst nach der Shoah hat unsere Theologie in den 1960er Jahren im Judentum unsere Wurzeln entdeckt. Daraus resultierten viele Kontakte auf allen Ebenen. Wenn es heute noch alltäglichen Antisemitismus gibt, zeigt das auch ein Defizit in unserem Bildungssystem.

 

Bei manchen Muslimen ist der Antisemitismus ausgeprägt. Das zeigt sich sogar hierzulande.

Spengler: Der Islam kann sehr offen sein, goldene Zeiten des Judentums hat es gerade unter muslimischer Herrschaft gegeben, etwa in Spanien oder im Osmanischen Reich, im früheren Palästina. Aber es gab auch immer Judenverfolgung. Der Antisemitismus ist also keine westliche Erfindung, wie jüngst ein Redner bei einer Demonstration an der Heilbronner Theresienwiese hetzte. Was mich erschreckt: Wie sich viele Muslime jetzt völlig unreflektiert auf die Seite der Hamas stellen und das Massaker an Juden nicht erwähnen und kein Mitgefühl zeigen.

 

Gibt es denn auch Zeichen der Sympathie aus der einheimischen Bevölkerung?

Spengler: Ja, derzeit sogar sehr viele und starke, vor allem per Mail. Viele Bürger sprechen ihr Mitgefühl aus, zeigen sich bestürzt über den Hamas-Terror. Manche bieten Hilfe an, Spenden, Geld. Das war in der Gründungsphase der Gemeinde vor 24 Jahren schon so. Innerhalb eines Jahres konnte dadurch das neue jüdische Zentrum an der Allee eingerichtet werden.

 

Was tut denn ihr Freundeskreis der Synagoge in der jetzigen Situation?

Spengler: Wir sprechen im Vorstand viel darüber, halten uns aber zunächst bewusst zurück, weil wir der Gemeinde nicht reinreden wollen. Das war immer so. Wir werden immer erst aktiv, wenn man uns um Hilfe bittet. Aber wie gesagt: Im Moment herrscht da eine regelrechte Schockstarre. Gleichwohl, wir verstecken uns nicht. Wir planten für 2024 sowieso gemeinsam stärker in die Öffentlichkeit zu gehen, speziell anlässlich jüdischer Feiertage: mit Konzerten, Feiern, mit Bildungsangeboten. Der Auftakt soll das Neujahrsfest der Bäume im Januar sein, das Tu Bischevat. Ein recht modernes Fest, das in Israel stets groß gefeiert wird. Zum einen sollen jüdische Mitbürger auf die Gemeinde aufmerksam werden. Zum anderen wollen wir damit Aufklärung betreiben, Vorbehalte abbauen und das gegenseitige Kennenlernen fördern.

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Kommentare

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Wilfried Müller am 09.11.2023 08:35 Uhr

Bruder Martin (Luther ) hat geirrt vor 509 Jahren. Dietrich Bonhoeffer hat nach dem Progrom (leider verharmlosend Reichskristallnacht genannt) geschrieben, wer nicht für die Juden schreit braucht auch nicht gregorianisch singen. Doch die Mehrheit des Kirchenvolkes hat es nicht verstanden. Diesen Fehler wollen wir nicht nochmal machen, deshalb habe ich mit meinem Posaunenchor in Kochersteinsfeld zum Abschluss der Church Night am 31.10. das Lied hevenu shalom gespielt.

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