Flucht vor der Teilmobilmachung in Russland
Eduard Perevalov ist auf dem Weg nach Deutschland, um Putins Regime zu entkommen. Der gelernte Innenarchitekt möchte zu seiner Schwägerin nach Heilbronn. Über eine schwierige Reise aus Russland.

Mehrere Tage und Nächte lang waren Eduard Perevalov und seine Frau Ekaterina Tretjakova Ende September im Stau an der Grenze zu Georgien gestanden. Tausende Männer hatten dasselbe vor wie der 42-Jährige aus Moskau. Sie wollten vor Putins Teilmobilmachung flüchten und sich so dem Krieg in der Ukraine entziehen. Doch an der Grenze ging nichts mehr. Auf einer einspurigen Straße seien teilweise sechs Autos nebeneinander gezwängt gewesen, schildert Perevalov. Die Stimmung sei aggressiv gewesen, mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten sollten sie einschüchtern.
Der gelernte Innenarchitekt möchte zu seiner Schwägerin Elena Pykhonin nach Heilbronn. Dort hoffen seine Frau und er für die nächste Zeit eine Zuflucht zu finden. An der Grenze zu Georgien ging die Reise für sie vorerst nicht weiter, sie machten kehrt. Tretjakova (34) ist inzwischen zurück in Moskau, um dort das gemeinsame Hab und Gut zu verkaufen, die Autos und Inventar. Und Eduard Perevalov hat es irgendwie geschafft, in die Türkei zu gelangen.
Glück mit der Flugbuchung
„Es gab eigentlich gar keine Flüge mehr“, sagt seine Schwägerin Elena Pykhonin. „Aber irgendjemand hat storniert und für das Zeitfenster von einer Sekunde konnte man buchen.“ Der Flug von Wladikawkas im Nordkaukasus nach Istanbul habe etwa 3000 Euro gekostet. Dass die Flucht vor der Teilmobilmachung wirklich gelingt, bezweifelte Perevalov zu diesem Zeitpunkt noch immer. „Ich hab das erst geglaubt, als das Flugzeug in Istanbul gelandet ist“, sagt er in einem Whatsapp-Videochat mit der Heilbronner Stimme. Er spricht Russisch, seine Schwägerin übersetzt ins Deutsche.

Heute sitzt er in der Hafenstadt Fethiye im Südwesten der Türkei, auf der Terrasse seines gemieteten Appartements. Kommende Woche werde er seine Frau in Georgien abholen, erzählt er. Anschließend bleiben sie wohl bis Dezember in der Türkei. Denn erst ab dann gilt ihr Touristenvisum für Deutschland, dass sie bereits im Sommer beantragt hatten – in weiser Voraussicht oder man könnte auch sagen: mit einer gewissen Vorahnung auf das, was nun ist. Ohne dieses bereits erteilte Touristenvisum hätte man ihn möglicherweise gar nicht in die Türkei fliegen lassen.
Eduard Perevalov und seine Frau schätzten ihr Leben in Moskau. Er sagt, sie hätten nie vorgehabt, es aufzugeben und Russland zu verlassen. Mit Putins Regime seien sie aber seit vielen Jahren in Konflikt gewesen. Im Februar hätten sie bei einer Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine teilgenommen, „da waren mehr Polizisten als Demonstranten“, schildert Perevalov. Nur mit Glück seien sie davongekommen, ohne verhaftet zu werden.
Hoffen auf guten Willen im Amt

Elena Pykhonin kümmert sich nun in Deutschland um nötige Behördenangelegenheiten. Ihre Mutter ist Spätaussiedlerin, hat also deutsche Wurzeln. Daher startete sie für ihre Schwester und deren Mann ein sogenanntes Spätaussiedler-Aufnahmeverfahren – für Angehörige und Nachkommen ist das möglich. Das Verfahren ist beim Bundesverwaltungsamt in Köln anhängig. Jetzt hoffe sie, dass die Abläufe aufgrund der Teilmobilmachung beschleunigt vorangehen.
Pykhonin sagt, sie leide darunter, dass Menschen mit russischer Staatsangehörigkeit derzeit über einen Kamm geschert würden. Oder das Leute, die weit entfernt sind vom russischen Alltag, von Russen forderten, doch auf die Straße zu gehen und in ihrem Land gegen Putin vorzugehen. Wer nicht dort lebe, könne vieles vermutlich nicht verstehen. „In Deutschland kannst du ohne Sorge demonstrieren, dir passiert nichts“, sagt Pykhonin. „Aber in Russland kannst du verhaftet werden und im Gefängnis sterben.“
Großes Unverständnis für Putins Regime

Als er von der Teilmobilmachung erfuhr, habe er Panik verspürt, sagt Eduard Perevalov. „Es war ein Schock.“ Doch nach wenigen Momenten bereits waren seine Frau und er am Planen ihrer Ausreise. „Ich kann es einfach nicht verstehen“, sagt Pervalov. „Obwohl du offensichtlich gegen Putins Regime bist, sollt du in die Ukraine und für ihn sterben oder anderen das Leben nehmen.“ Das mache alles keinen Sinn. Freunde von ihnen seien seit einigen Monaten in der Türkei, weil sie bereits früher realisiert hatten, was kommen wird. Für viele Männer ist eine Flucht vor der Teilmobilmachung allerdings noch schwieriger als für Perevalov, denn die Mehrheit besitzt keine Reisepässe.
Obwohl in Fethiye bestes Wetter ist, kann Eduard Perevalov seine Zeit dort überhaupt nicht genießen. Er blickt ernst im Videoanruf. „Ich ziehe mir keine Badehose an und gehe ins Meer“, sagt er. Seine Frau sei noch in Russland, regle den Verkauf ihrer Habseligkeiten und er könne sie in dieser schwierigen Situation nicht unterstützen. Das bereite ihm Sorge. Über die absurden Zustände an der Grenze zu Georgien hat er auf seinem Facebook-Profil einen mehrseitigen Erlebnisbericht veröffentlicht. Von Apokalypse spricht er.
Zum Guten wenden Perevalov ist bewusst, dass für seine Frau und ihn in den nächsten Jahren eine Rückkehr nach Russland nicht möglich sein wird – nicht unter diesen Umständen. Erst wenn Putins Ära zu Ende sei, könne sich die Situation verbessern. Perevalov sehnt sich nach einem liberalen und demokratischen System. „Dann könnte es sein, dass sich etwas zum Guten wendet.“
Elena Pykhonin verliert die Hoffnung in der Regel zuletzt. Aber momentan sei sie überwiegend pessimistisch. Das Jahr 2022 habe sie sich anders vorgestellt. Pykhonin: „Wir reden daheim über einen Atomkrieg und wo wir hin könnten im Falle der Fälle, um sicher zu sein. Das ist doch völlig irre.“


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