Stimme+
Heilbronn
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

Der Abend, als der Schrecken nach Heilbronn zurückkehrte

   | 
Lesezeit  2 Min
Erfolgreich kopiert!

Am 4. Dezember 1944 wird Alt-Heilbronn zerbombt, 6500 Menschen verlieren ihr Leben. Es ist ein Luftangriff mit Vorgeschichte. Denn die Tragödie war in erster Linie eine Reaktion auf das, was von hier aus in die Welt getragen wurde.

Die Heilbronner Kaiserstraße vor dem Krieg, ...
Die Heilbronner Kaiserstraße vor dem Krieg, ...

Alle Kirchenglocken von Heilbronn werden heute um 19.20 Uhr läuten. Noch gibt es Menschen, die sich an genau diese Uhrzeit an jenem Abend vor 75 Jahren erinnern.

Der Angriff auf Heilbronn hat nicht nur die Altstadt in Schutt und Asche gelegt, er hat Leid verursacht, Kinder zu Waisen gemacht, Wunden hinterlassen - und sich tief ins Bewusstsein der Region eingebrannt. Doch der 4. Dezember steht in einem größeren Zusammenhang.

Die Versuche, das Unfassbare zu begreifen und zu verarbeiten, sind vielfältig, gerade am 75. Jahrestag. Sie reichen von dem zum Ehrenfriedhof umgestalteten Massengrab im Köpfertal über die Ehrenhalle im Rathaus, Kunstinstallationen, dem traditionellen Gedenkkonzert in der Kilianskirche über Gottesdienste bis hin zu ganz neuen Formen des Gedenkens wie etwa einem Friedensweg durch die Stadt oder einer Gedenk-Kundgebung gegen Rechts auf dem Wartberg.

Fast 75 Jahre braucht die Stadt für einen emotionalen Neuanfang

... unmittelbar nach der Zerstörung ...
... unmittelbar nach der Zerstörung ...

Manche mögen sich fragen: Muss das alles sein? Übertreiben es die Heilbronner nicht mit ihrer Trauerkultur? Kann man nicht endlich Gras wachsen lassen über die alten Geschichten? Es hat doch ziemlich genau 75 Jahre gebraucht, bis sich das Selbstverständnis der Heilbronner und das Bild, das sie ihren Besuchern von ihrer Stadt vermitteln, wieder ins Positive gewendet hat.

Jetzt, zwei Monate nach der Bundesgartenschau, durch die Stadt und Bürger einen 173-tägigen Frühling erlebten, ist die Euphorie zwar verebbt. Doch das neue Selbstbewusstsein ist geblieben. Und gerade in einem solchen Augenblick gilt es, genauer hinzuschauen, was vor 75 Jahren passiert ist.

Heilbronn war kein lebenswerter Ort mehr

... und heute, so wie sie der Unternehmer Walter Rechkemmer und Stimme-Fotograf Mario Berger festgehalten haben.
... und heute, so wie sie der Unternehmer Walter Rechkemmer und Stimme-Fotograf Mario Berger festgehalten haben.  Foto: Berger, Mario

Heilbronn hat nicht erst durch die Zerstörung erfahren, was Krieg und Nazi-Terror in letzter Konsequenz bedeuten. Wer Fotos der wunderschönen Altstadt aus den 1930er und 40er Jahren vor Augen hat, wird die damals allgegenwärtigen Hakenkreuze kaum übersehen.

Schon vor jenem 4. Dezember war die Stadt kein lebenswerter Ort mehr für jene, die durch ihre Herkunft, Religion, durch Krankheit, genetische Veranlagung oder politische Überzeugung dem Idealbild der Nationalsozialisten widersprachen.

Mit dem Kriegsverbrecher Richard Drauz fungierte ausgerechnet ein Sohn der Stadt als einflussreicher Kreisleiter, der sogar in jener grausamen Zeit als besonders rücksichtslos und inhuman galt. Menschen wie er konnten an Einfluss gewinnen, weil ihre Überzeugungen und ihr Weltbild von großen Teilen der deutschen Bevölkerung geteilt wurden. Der Glaube an eine deutsche Überlegenheit, an einen Führer, der sich von viel Beifall begleitet aller demokratischen Fesseln entledigt hatte, bereitete der Schreckensherrschaft und dem Krieg den Boden. 

Das Gedankengut von einst ist wieder salonfähig

Die Parolen von einst sind heute wieder zu hören. Nicht nur leise, im Verborgenen, in der Anonymität des Internets. Das braune Gedankengut hat über Stammtische und öffentliche Auftritte hinaus längst wieder demokratisch gewählte Gremien erreicht. So wird rechte Propaganda mit ihrer Fremdenfeindlichkeit und der Idealisierung eines letztlich doch nie vorhandenen "Volkswillens" in ihrer ganzen Kompromisslosigkeit wieder salonfähig.

Deshalb sind solche Gedenktage heute wichtiger denn je. Sie zeigen, wie zerbrechlich das Glück ist. Das Glück, in einem Land wie Deutschland, in einer aufblühenden Stadt, in einer dynamischen Region zu leben. Wohin Menschenverachtung und Intoleranz führen, haben die Heilbronner vor 75 Jahren erlebt. Die Fliegerangriffe der Alliierten auf die deutsche Zivilbevölkerung waren eine Reaktion auf die unermesslichen Verbrechen der Nazis. Der Krieg ging von Deutschland in die Welt - und er kam zurück, am Abend des 4. Dezember 1944, nach Heilbronn.

Der Luftangriff vom 4. Dezember 1944

Am 4. Dezember 1944 erlebt Heilbronn den dunkelsten Tag seiner Geschichte. Heute vor genau 75 Jahren, keine fünf Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs, wird die über Jahrhunderte gewachsene Stadt total zerstört. 282 Lancaster-Flieger der British Air Force werfen zwischen 19.18 Uhr und 19.55 Uhr 1200 Tonnen Bomben über dem Stadtkern und über dem Böckinger Bahnhofsgebiet ab.

Sogenannte Christbäume markieren das Ziel, dann wirbeln Trümmerbomben die Dächer auf. Brandbeschleuniger entfachen schließlich einen Feuersturm, der alles niederwalzt. In der wunderschönen historischen Altstadt bleibt kein Gebäude heil. Mehr als 6500 Menschen kommen ums Leben - die genaue Zahl weiß man bis heute nicht. 

Eine Rekonstruktion der Nacht gibt es unter diesem Link.

 

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung

Götz Drauz am 04.12.2019 17:39 Uhr

Keine Frage, das nationalsozialistische Regime hat großes Leid über die Welt gebracht. Im Gegensatz zu vielen anderen hat mein Vater dafür aber mit dem Tode gebüßt. In Ihrer regelmäßigen Berichterstattung über diese Zeit scheint es in Heilbronn neben ihm keine anderen Nazis gegeben zu haben. Das ist vielleicht doch etwas zu einfach...).

Sie verschweigen im Übrigen, dass vor allem die britischen Flächenbombardements der Innenstädte keine wirklich kriegswichtigen Ziele betrafen, sondern in erster Linie der Zivilbevölkerung galten. Die Sprengbomben hatten das Ziel, die Dächer aufzureißen damit die folgenden Phosphorbomben ihre volle Wirkung entfalten konnten. Den in den Kellern Schutz suchenden wurde dadurch der Sauerstoff entzogen. Diese Wirkung war bekannt und wurde ganz bewusst in Kauf genommen.
Diese Art der Kriegführung war mit Sicherheit nicht die einzig mögliche oder gar ethisch richtige „Reaktion” auf die Nazi-Verbrechen. Man sollte erwarten können, dass 75 Jahre danach auch solche Fakten dargestellt und diskutiert werden.

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()

am 04.12.2019 15:07 Uhr

Vielen Dank für die klare Einordnung, die Sie heute mit dem Artikel auf der Titelseite zur Zerstörung Heilbronns vorgenommen haben.
Vor allem die Aussage, dass Heilbronn (eigentlich ganz Deutschland) schon in den 30er Jahren kein lebenswerter Ort mehr für alle war, die nicht dem Idealbild der Nazis entsprachen, hat mich sehr berührt. Heute gibt es wieder (Ver-)Führer, die von einer deutschen Identität sprechen, die es zu schützen gelte. Aber nicht nur in der großen Politik schleicht sich Rassismus und Ausgrenzung ein, auch im Kleinen und auf dem Lande wird wieder separiert.
Besorgte Bürger fürchten sich davor, dass in ihrer Nachbarschaft auch Menschen aus anderen Ländern wohnen dürfen sollen. Wer andere wegen ihrer Herkunft oder Religion nicht als Nachbar haben möchte, macht sich mitschuldig an der Ausgrenzung in unserer ach so aufgeklärten Gesellschaft. Gute Artikel wie der von heute sind da ein wohltuendes Gegengewicht. Schade, dass die besorgten Bürger gar nicht merken, was sie anrichten.

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()

Peter Henschel am 04.12.2019 16:44 Uhr

Solange aber immer wieder die Ursachen ausgeblendet werden, müssen wir leider immer wieder mit ähnlichen Entwicklungen rechnen, so wie eben dies aktuell der Fall ist. Nichts fehlt vom Himmel!

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()

am 04.12.2019 18:16 Uhr

Sie sprechen mir aus der Seele!

Herr Henschel: Ihre Kommentare sind, meiner Meinung nach, oft sehr kryptisch verfasst. Was sind den die Ursachen die eingeblendet werden müssen? Ursachen für was? Und von wem genau müssen diese Ursachen eingeblendet werden?
Auf was bezieht sich "so weit, so gut!"?
Was ist gut soweit?

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()

Peter Henschel am 04.12.2019 21:56 Uhr

Artikel und Leserbrief sachlich bzw menschlich in Ordnung. Ausgeblendet wird aber immer wieder die Ursachen! Nichts fällt mal soeben vom Himmel. Kirchen, Unternehmen, wie z.B Henry Ford, Krupp,, sonstige Eliten standen zu Hitler und haben ihn finanziert sowie unterstuetzt!

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()

am 05.12.2019 12:31 Uhr

ist die komplette, komplexe Nazi Ideologie zu erklären, die aktuell wieder salonfähig wird, sind Sie uns allen mehrere Schritte voraus!

Höcke ist also nicht vom Himmel gefallen!
Die Kirchen und Henry Ford können diesmal ausgeschlossen werden! Waren es ev. die Wähler? Und wenn ja, warum?

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
Nach oben  Nach oben