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11. Januar: Jahrestag des Pershing-Unglücks von 1985

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Beim Pershing-Unglück auf der Waldheide entgeht die Region knapp einer Atomkatastrophe. Schlagartig rückt Heilbronn am 11. Januar 1985 in den Brennpunkt des Weltgeschehens.

Die Unglückstelle am Nachmittag des 11. Januar 1985. Bilder wie diese blieben bis vor wenigen Jahren als Geheimsache unter Verschluss.
Foto: Stadtarchiv/Günter Baumann
Die Unglückstelle am Nachmittag des 11. Januar 1985. Bilder wie diese blieben bis vor wenigen Jahren als Geheimsache unter Verschluss. Foto: Stadtarchiv/Günter Baumann  Foto: Günter Baumann

Der 4. Dezember 1944, der Tag der Zerstörung Heilbronns, ist als Schicksalstag der Stadt in die Geschichte eingegangen. Ins kollektive Bewusstsein eingegraben hat sich auch dieses Datum: 11. Januar 1985. Heute vor 37 Jahren explodiert auf der Waldheide der Motor einer Pershing-II-Atomrakete. Eine schwarze Wolke markiert die Unglücksstelle im verschneiten Stadtwald.

Einer der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Europas entgeht knapp einer atomaren Katastrophe. Heilbronn steht im Brennpunkt der Weltöffentlichkeit und wird auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen Nato und Sowjetunion zum Mekka der Friedensbewegung. Schon wenige Jahre später setzt politisches Tauwetter ein. 1989 ziehen die ersten US-Soldaten ab.


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Larry Nichols, Garrison-Commander der International Veterans Association, und OB Harry Mergel (rechts) am Gedenkstein zum Pershing-Unglück.
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Waldheide als Mahnmal gegen Feindbilder und Nationalismus


Zurück zur Natur

Mitte der 1990er beginnt die Stadt mit der Renaturierung. Bald dient der ehemalige Stützpunkt für Vernichtungswaffen der Naherholung, Tieren des Waldes und Schafen, die auf der Callunaheide das Gras kurz halten. Ihr Stall, eine ehemalige Helikopterhalle, ist das letzte Bauzeugnis aus US-Tagen. Sang- und klanglos wollte ihn das Rathaus 2019 abreißen. Doch auf Initiative von SPD und Grünen verständigte man sich darauf, Teile zu erhalten und in ein dezentrales Gedenkkonzept zu integrieren, das die Historie des 55-Hektar-Areals umfasst und über eine Bürgerwerkstatt mit Zeitzeugen im Stadtarchiv entwickelt wird. Durch Corona konnte das Projekt aber noch nicht abgeschlossen werden. So erinnert im Alltag wenig an das Pershing-Unglück.

Gedenkfeier am Sonntag, 16. Januar

Am Haupteingang zur Waldheide bildet eine Betonskulptur den Lageplan der Heide ab und tippt in Stichworten ihre Historie an. 500 Meter nördlich davon markiert ein Fahnenmast mit Betonsockel die Unglücksstelle - und ein Felsen. Sie tragen die Namen der getöteten Soldaten. John Leach, Todd A. Zephir, Darryl L. Shirley. "Lest we forget", damit wir nicht vergessen, steht darauf. Heute will der OB einen Kranz niederlegen. Am Sonntag, 16. Januar, 14 Uhr, findet dort auf Einladung der International Veterans Association eine Gedenkfeier statt. Für Initiator Larry Nichols ist die Erinnerung an diesen schwarzen Freitag im Januar 1985 noch wach, auch andere Zeitzeugen erinnern sich gut.



Der US-Soldat

Larry Nichols. Foto: Seidel
Larry Nichols. Foto: Seidel  Foto: Seidel

Larry Nichols ist "an diesem eiskalten Freitag" mit einem Lkw unterwegs ist. Auf Höhe von Ellhofen wird plötzlich das AFN-Radioprogramm unterbrochen, also der Army-Sender American Forces Network: "Achtung. Sondermeldung. Heilbronn, Germany. Auf Fort Redleg hat es eine Explosion gegeben."

Postwendend steuert der US-Amerikaner über die Jägerhausstraße die Waldheide an. "Doch da ist alles gesperrt, überall Polizei, Feuerwehr, Ambulanzen, Helikopter." Am Telefon erfährt er von einem Freund: "Drei Kameraden tot, 19 schwer verletzt." Bereits in den 1970ern arbeitet der heute 66-Jährige auf der Waldheide, als Corporal passt er auf Hubschrauber auf. "Die standen am heutigen Schafstall, zwei drinnen, einer draußen." Später verlässt er das Militär, lässt sich in Böckingen nieder.

2014 installiert Nichols neben dem offiziellen Gedenkstein einen Mast mit Betonsockel. Das Gebilde erinnert an einen Bunker. An der Flanke hängt eine Gedenktafel: "Damit wir nicht vergessen." Dorthin lädt Larry Nichols im Namen der International Veterans Association inzwischen Jahr für Jahr im Januar zur Gedenkfeier ein.


Der Feuerwehrmann

Günter Baumann. Foto: Mugler
Günter Baumann. Foto: Mugler  Foto: Mugler

"Brand eines Lkw. Munitionsexplosion auf einem Lkw im abgesperrten Raketenbereich. Es gibt Schwerverletzte und Tote." So der Wortlaut einer Meldung, die um 14.02 Uhr in der städtischen Feuerwehrleitstelle eingeht. Als um 14.09 Uhr die ersten Einsatzkräfte eintreffen, "trauen wir unseren Augen nicht", berichtet Günter Baumann: Die Tore des Atomwaffenstützpunktes stehen weit offen. Soldaten mit Brandwunden irren umher, einige liegen am Boden, drei sind tot.

"Alle anderen waren verschwunden, weil sie um die Gefahr wussten", berichtet Baumann. "Und als sie schwer bewaffnet aus der Deckung kamen, wurden wir wie Schwerverbrecher behandelt. Das war brutal gefährlich, bei minus sieben Grad war wegen des Löschwassers alles spiegelglatt." Und: "Direkt neben brennenden Teilen lagerten Raketen mit Sprengköpfen. Bis 22 Uhr haben wir gelöscht.

Nicht auszudenken, wenn die Feuer gefangen hätten." Einen Rollfilm mit Fotos hat Baumann im Helm aus dem Hochsicherheitstrakt geschmuggelt. Die Bilder blieben als Geheimsache lange unter Verschluss, heute sind sie im Stadtarchiv zugänglich.


Der Journalist

Gerd Kempf. Foto: Bertok
Gerd Kempf. Foto: Bertok  Foto: Bertok

Als am frühen Freitagnachmittag des 11. Januar 1985 unüberhörbar die Feuerwehr ausrückt, ahnen Gerd Kempf und die Kollegen in der Stimme-Redaktion nichts von einem "die Welt in Atem haltenden Ereignis". Denn blinder Alarm in Berufsschulen war fast zum Ritual geworden.

Doch jetzt rast die Feuerwehr nach Osten – in Richtung der zum politischen Brennpunkt gewordenen Waldheide, wo laut Kempf "zwar jeder die Pershing-Raketen sehen kann", diese von der Verwaltungsspitze im Rathaus aber geleugnet werden. "Blitzschnell ist an dem eisig kalten Freitag das Gelände abgeriegelt, so dass kein Reporter vor Ort ein Bild machen kann." Es ist eine Zeit ohne Internet und Handy.

Und es ist eine Zeit, als die Gesellschaft gespalten und nur in der Beteuerung vereint ist, nichts als den Frieden anzustreben: die einen durch Aufrüstung, die anderen durch die Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen, erinnert Kempf. Und: "In der Redaktion warten wir gespannt, wie US-General Haddock am Abend das Unglück mit drei toten Soldaten erklären würde. Er beruhigt: ,Für die Zivilbevölkerung bestand keine Gefahr." Beruhigt sind wir nicht."


Der Friedensaktivist

Wolf Theilacker. Foto: Privat
Wolf Theilacker. Foto: Privat  Foto: privat

"Atomraketen in einer Großstadt? Reine Verschwörungstheorie. Nie würden unsere amerikanischen Freunde das tun." So bringt Wolf Theilacker die vorherrschende Meinung zu Zeiten des Kalten Krieges auf den Punkt.

"Unsere Flugblätter mit Fakten und Fotos fanden nur verhaltenes Interesse", berichtet der Friedensaktivist und Mitbegründer der Grünen. "3000 Grad heiß" sei das Thema erst 1985 geworden, als "im Feuerball einer Raketenstufe GIs den Tod fanden". "Jetzt erst wachten die Heilbronner und das Umland auf. Empört darüber, dass sie von oben über Jahrzehnte angelogen worden waren, gingen Zehntausend auf die Straße." Für Theilacker ist das kein Schnee von gestern.

Eine neuartige Massenvernichtungswaffe, so sagt er, werde "vorbei an uns mündigen Bürgern" bald in Deutschland stationiert. Sie werde "die Hemmschwelle für einen Atomkrieg in Europa ganz erheblich senken", fürchtet der unermüdliche Mahner. Zudem wolle die neue US-Regierung neue Kampfflugzeuge beschaffen. "Beides auf unsere Kosten, im doppelten Sinn", gibt der Grüne zu verstehen und fragt: "Wie reagieren wir diesmal?"

 


 

Der Deutsch-Amerikaner

Nico Weinmann. Foto: Privat
Nico Weinmann. Foto: Privat  Foto: privat

US-Soldaten waren im Stadtbild der 80er Jahre omnipräsent und für den jungen Nico Weinmann "Berührungspunkt zum American way of life". Sein Elternhaus stand für alle offen, berichtet der Sohn einer Amerikanerin und eines Deutschen.

Standort-Kommandeure und US-Militärs seien regelmäßig zu Gast gewesen. Dass da "nicht alles privat war", was besprochen wurde, habe sich ihm erst später erschlossen. Für den Zwölfjährigen waren der Nato-Doppelbeschluss oder die Stationierung von Atomraketen vor der Haustür kein Thema. Doch durch das Pershing-Unglück rückten sie in den Mittelpunkt, als Heilbronn – und Nicos Vater OB Manfred Weinmann – im Fokus der Öffentlichkeit standen.

Natürlich habe "die emotional aufgeladene, mitunter aggressive Stimmung und ein gerade für meine Mutter hässlicher Anti-Amerikanismus auch bei uns daheim zu hitzigen Diskussionen" geführt. Der Abzug der Raketen und die Renaturierung der Waldheide seien für den Vater eine späte Genugtuung gewesen. Für Nico Weinmann selbst ist die Waldheide heute "ein Mahnmal, dass Friede und Freiheit nie selbstverständlich sind".


Der Stadthistoriker

Christhard Schrenk. Foto: Gleichauf
Christhard Schrenk. Foto: Gleichauf  Foto: Gleichauf

Das Pershing-Unglück ist dasjenige Thema der Heilbronner Geschichte, das Stadthistoriker Christhard Schrenk schon am längsten beschäftigt. "Ich kann mich lebhaft an den 11. Januar 1985 erinnern, obwohl ich noch nicht in Heilbronn lebte." Schrenk ist damals Doktorand in Konstanz, der Unfall "hat uns Studierende emotional sehr bewegt".

Zunächst fragten sich viele, wo genau diese "Waldheide" überhaupt liegt, ein Begriff, der plötzlich überall in den Schlagzeilen ist. Mutlangen, das seinerzeit als Raketenstandort ebenso im Fokus steht, ist als Vorort von Schwäbisch Gmünd besser bekannt. Als Schrenk dann 1987 zum Stadtarchiv Heilbronn kommt, wird ihm schnell klar, dass die Zeit der Pershing-Stationierung und insbesondere das Unglück von 1985 für die Stadtgesellschaft "ungemein prägend" sind.

Im Rahmen einer Geschichtswerkstatt habe das Stadtarchiv 2021 begonnen, sich noch einmal intensiv mit dem Themenkomplex auseinanderzusetzen, um alles von möglichst vielen Blickwinkeln aus zu beleuchten. "Die Zeit ist dafür reif, denn inzwischen haben alle Beteiligten den nötigen Abstand."

 

 

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