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Ende des Zweiten Weltkriegs
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Gefangenenlager in Heilbronn-Böckingen: Ungewissheit nur übertroffen vom Hunger

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Mit der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 waren Leid und Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht vorbei. In Heilbronn-Böckingen errichteten die Amerikaner ein großes Lager für Kriegsgefangene.


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Noch heute habe ich das Bild nicht vergessen, wie die starren Leichen vom Bohrturm auf der Schollenhalde, der über diese Zeit als Leichenhalle diente, nur mit Tüchern um die Leiber zum Transport zum Böckinger Friedhof auf Lkws geladen wurden“, schreibt die Böckingerin Ilse Reil im Dezember 1986 in einem Brief an den damaligen Heilbronner Oberbürgermeister Manfred Weinmann. Nicht nur die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind der Zeitzeugin in Erinnerung geblieben. Zeit ihres Lebens behielt sie auch das Leid rund um das Kriegsgefangenenlager im Gedächtnis, das die Amerikaner mit dem Ende des Krieges in Böckingen errichtet haben.

Die Bombenacht vom 4. Dezember 1944 hat sich tief ins Bewusstsein der Heilbronner eingebrannt wie kaum ein anderes Datum in der wechselhaften Geschichte der Stadt. Die Alliierten haben in dieser Nacht Heilbronn dem Erdboden gleichgemacht. Doch nur wenige Monate später erlebten Hunderttausende in der Stadt am Neckar ein ungewisses Schicksal. Verbunden mit Leid an der Grenze zur humanitären Katastrophe. Im Mai 1945 errichteten die Amerikaner in ihrem Sektor rund 20 Gefangenenlager, darunter auch PWTE C-3 und C-4 in Böckingen.

Heilbronn 1945: Zeitzeugin bleibt dieses Kapitel in leidlicher Erinnerung

In der Heilbronner Geschichtsschreibung spielt das Lager keine herausragende Rolle. Auch wenn die Dissertation des Heidelberger Historikers Christof Strauß aus dem Jahr 1998 und seit 1991 ein Gedenkstein auf dem Kraichgauer Platz im größten Heilbronner Stadtteil daran erinnern. „Mir selbst ist als Kind unmittelbarer Anwohner (Kreuzgrundsiedlung) dieses Kapitel noch in leidlicher Erinnerung“, schrieb Ilse Reil zwölf Jahre zuvor weiter in ihrem Brief an Manfred Weinmann.

Vor 80 Jahren internierten die Amerikaner in Deutschland Millionen von Kriegsgefangenen. Das war ein logistischer Gewaltakt in einer vom Krieg zerstörten Umgebung unter katastrophalen Bedingungen. Allein in Heilbronn befanden sich im Mai 1945 nach Angaben des Historikers Christof Strauß rund 150.000 Kriegsgefangene auf einer Fläche von rund 270 Hektar. Bis Ende 1945 sollen rund 350.000 Inhaftierte das Böckinger Lager durchlaufen haben. Teils zur Entlassung, teils zum Arbeitseinsatz nach Frankreich und Belgien.


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„Der Zeitpunkt, von dem an das provisorische Lager auf dem sogenannten VfR-Platz seinen Betrieb aufnahm, ist nicht genau zu ermitteln“, schreibt der Heidelberger Geschichtswissenschaftler in seiner Dissertation. Unterschiedliche Quellen nennen verschiedene Daten Ende April 1945. Die Bedingungen für die Gefangenen waren anfangs menschenunwürdig. Sie waren hinter bloßem Stacheldrahtzaun der Witterung ausgesetzt. Die Fördertürme der Kali Chemie nutzten den Amerikanern als Wachtürme.

Heilbronn nach dem Zweiten Weltkrieg: Gefangene hoben mit Essbestecken notdürftige Gruben aus

„Die Bilder aus dem Kriegsgefangenenlager muten heute wie Szenen aus dem fernen Kambodscha oder aus biblischen Zeiten an“, schrieb Uwe Jacobi am 19. Mai 1982 in der Heilbronner Stimme. Mit ihren Essbestecken sollen die Kriegsgefangenen notdürftige Gruben ausgehoben haben, um sich ein wenig vor Wind und Wetter zu schützen. „Glücklich konnte sich preisen, wer einen Mantel oder eine Decke sein eigen nennt“, schrieb Gerd Kempf, Redakteur der Heilbronner Stimme im Juli 1995. Später entstand auf dem Acker auf der Trappenhöhe vor den Toren der Stadt ein einfaches Zeltlager.


Die Ungewissheit, was die Kriegsgefangenen erwarten würde, wurde offenbar nur übertroffen von der Frage, was sie essen sollten. An rohes Gras und gekochte Regenwürmer erinnerten sich ehemalige Kriegsgefangene noch Jahrzehnte danach. Im Mai 1982 schrieb der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Heilbronner Stimme, Uwe Jacobi, in einem Artikel, dass einige von ihnen an Unterernährung starben oder Selbstmord begingen. „Auch bei den Gefangenen in Heilbronn bewirkte die strapaziöse Anfangsphase, dass viele Soldaten bereits entkräftet am Gewahrsamsort ankamen und auf diese Weise einer Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Lagern Vorschub geleistet wurde“, schreibt der Historiker Christof Strauß in seiner Dissertation.

Kriegsende in Heilbronn: Endlose Kolonnen mit abgemagerten und zerlumpten Soldaten

Gegen das Vergessen dieses Teils der Heilbronner Geschichte setzte sich die Heilbronnerin Ilse Reil über Jahrzehnte immer wieder ein. In ihrem Nachlass hat die mittlerweile verstorbene Böckingerin Artikel, Leserbriefe und Schriftverkehr mit der Heilbronner Stadtverwaltung gesammelt. Sie selbst berichtete als Augenzeugin von „abgemagerten und zum Teil zerlumpten gefangenen deutschen Soldaten, die in endlosen Kolonnen die Heidelberger Straße hochzogen“. Auch dieses Bild wolle nicht aus ihrer Kindheitserinnerung weichen.

Es habe weder Unterkünfte noch Wasser gegeben. „Sie mussten auf der Erde liegen, und die, die noch konnten, gruben sich Erdlöcher.“ Die Erinnerung daran müsse wachgehalten werden. „Die wenigsten Bewohner des Gebietes Schanz sind Einheimische und wissen gar nicht, auf welchem Boden sie wohnen“, schrieb die Böckingerin an den Heilbronner Oberbürgermeister. Sie setzte sich für eine Erinnerungstafel ein.

Ende Mai 1945 wurden die ersten Zelte geliefert. In den folgenden Monaten entstand eine riesige Zelt- und Barrackenstadt. Rund zwei Jahre lang nutzten die Amerikaner den Acker vor den Toren der Stadt als Lager.  Laut dem Stimme-Redakteur Uwe Jacobi sollen in Summe rund zwei Millionen Männer durch dieses Lager gegangen sein. Der Heidelberger Historiker Strauß beziffert die Gesamtzahl derer, die von den Amerikanern durch das Heilbronner Lager geschleust wurden, auf Grundlage seiner Forschung auf zwischen einer halben und einer Million Menschen.

Im November 1947 übergaben die Amerikaner das Lager an deutsche Stellen, die es in der Folge im Zuge der sogenannten Entnazifizierung zunächst für kurze Zeit als Internierungslager für Zivilisten nutzen.

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