Der geplante Vortrag zu Hass und Hetze wurde kurzfristig abgesagt.
Foto: privat
Birgit Mair hatte am Dienstagmorgen gerade ihren Koffer zugemacht und wollte starten. Da überraschte sie die Absage ihre Termins am Abend in Wüstenrot. „Hass & Hetze – aber nicht in Wüstenrot!?“ war der Vortrag der Rechtsextremismus-Expertin vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung e.V. (ISFBB) in Nürnberg überschrieben.
Vortrag zu „Hass & Hetze – aber nicht in Wüstenrot“ abgesagt – das ist der Grund
Eingeladen hatte die Gemeinde Wüstenrot als Reaktion auf die ausländerfeindlichen Schmierereien und rechtsradikalen Symbole und Sprüche im vergangenen Oktober an öffentlichen und privaten Gebäuden im Ort. Kurzfristig cancelte Bürgermeister Timo Wolf den Termin. Der Grund: das Neutralitätsgebot vor Wahlen, hier der Bundestagswahl am 23. Februar.
Daran habe er nicht gedacht, als schon vor längerer Zeit der Termin festgelegt wurde, sagt Wolf auf Nachfrage. Darauf aufmerksam gemacht habe ihn am frühen Dienstagmorgen sein Vorgänger Heinz Nägele. Wolf besprach sich mit dem Landratsamt Heilbronn sowie mit dem Gemeindetag und sagte den Vortrag ab, um keinen Verstoß zu riskieren.
Bürgermeister Wolf versichert: Mail von AfD-Kreisrat nicht Grund für Absage
Im Laufe des Vormittags landete auch eine Mail des AfD-Fraktionsvorsitzenden im Schwäbisch Haller Kreistag, Kurt Möller, in Wolfs Postfach. Bei dem Vortrag würde es sich um eine einseitige Einflussnahme der Gemeinde kurz vor den Wahlen handeln, so der Vorwurf. Sollte sich herausstellen, dass gegen die AfD öffentlich gehetzt werde, werde er die Wahl in Wüstenrot anfechten. Diese Mail sei aber nicht der Grund der Absage gewesen, versichert Wolf.
Etliche Besucher, die vergeblich gekommen waren, zeigten sich enttäuscht. So wie Mike Schmalzl. Wie viele Wüstenroter war er über die Schmierereien mit „menschenverachtender Tendenz“ entsetzt gewesen. Den Vortrag mit Workshop habe er als Akt der Zivilcourage gesehen. Denn solche Veranstaltungen seien „Teil einer lebhaften Demokratie und Standsäule in unserer freien Meinungskultur“.
Absage von Vortrag gegen Hass und Hetze in Wüstenrot – vorauseilender Gehorsam?
Für Birgit Mair ist es die erste Absage, sagt sie mit Verweis auf bundesweit 183 Veranstaltungen des ISFBB allein 2024 gegen extreme Rechte, gegen Rassismus und Antisemitismus, größtenteils an (Hoch-)Schulen, in Kommunen und Kultureinrichtungen. „Ich mache keine Wahlempfehlung.“ Die AfD sei auch mit keinem Wort in der Ankündigung der Gemeinde erwähnt. In dieser heißt es: „Ziel der Veranstaltung ist es, über die Mechanismen von Hass und Hetze aufzuklären und Ansätze aufzuzeigen, wie man aktiv dagegen vorgehen kann.“
Die Absage sieht Mair, die Mitbegründerin des gemeinnützigen Bildungsvereins ist, als vorauseilenden Gehorsam. „Leider ein Punktsieg für die extreme Rechte“, bedauert sie in einer Pressemitteilung. Solche Einschüchterungsmethoden seien nicht nur gegen sie, sondern auch gegen den Veranstalter gerichtet.
„Eine sonderbare Geschichte mit der Neutralität“, meint die Autorin mehrerer Bücher über Holocaust-Überlebende und extrem rechte Bewegungen. Mair zeigt sich besorgt: „Seit einem Jahr spüren wir als Bildungsverein erstmals, dass die extreme Rechte versucht, unsere Bildungsarbeit zu blockieren.“
Vortrag in Seniorenzentrum abgesagt – Vorgang macht Leiter betroffen
Gastgeber Matthias Thalhofer kann den Bürgermeister verstehen, dass er sich nicht angreifbar machen wollte. Allerdings macht den Leiter des Seniorenzentrums Martha-Maria, wo der Vortrag stattfinden sollte, der Vorgang betroffen und traurig. Auch der Vorstandsvorsitzende des Diakoniewerks in Nürnberg sei bestürzt über die Absage. Thalhofer zitiert Pressesprecher Volker Kiemle: Martha-Maria fühle sich nur der Menschlichkeit verpflichtet, nicht der Neutralität, die der AfD-Kreisrat auch beim Diakoniewerk anmahnte.
Der AfD-Kreisrat sorge sich, dass gehetzt werde, gleichzeitig sei er gegen eine Veranstaltung gegen Hass und Hetze. „Das widerspricht sich“, meint Thalhofer. Die Absage bedeutet für ihn, dass das Recht auf Informationsfreiheit eingeschränkt werde. Er hat den Eindruck, dass der Vortrag durch die Absage nun mehr Aufmerksamkeit bekommt, als wenn er stattgefunden hätte. Für Referentin Mair jedenfalls wird dieser Vorfall in ihren künftigen Vorträgen Raum einnehmen, sagt sie.
Vor Wahlen sind Staats- und Kommunalorgane sowie Amtsträger verpflichtet, neutral zu agieren, das besagt das Neutralitätsgebot. Das soll die Unabhängigkeit und die Glaubwürdigkeit öffentlicher Institutionen garantieren sowie die Chancengleichheit der Parteien. Für Verstöße, so das Landratsamt Heilbronn, gebe es keine generellen Maßnahmen. Wer sich beeinträchtigt sieht, muss sich an denjenigen wenden, der verantwortlich ist. Verstöße gegen das Neutralitätsverbot bei der Bundestagswahl 2019 sind der Kreisbehörde nicht bekannt.
Der Vortrag in Wüstenrot ist nur aufgeschoben. Im Nachgang der Schmierereien von rechtsradikalen Symbolen und Sprüchen ist er Teil der Reaktionen der Gemeinde, die sie mit Vertretern von Kirchen, Vereinen und interessierten Bürgern Anfang November 2024 diskutiert hatte. Auch ein Begegnungsfest ist angedacht. Der Gemeinderat selbst hatte eine Resolution gegen Hass und Hetze unterzeichnet. Und Jugendliche der Georg-Kropp-Gemeinschaftsschule hatten ein großes Graffiti auf eine Außenwand gesprüht gegen Rassismus und Hass, für Toleranz und Vielfalt.
Traurig, aber keine Sorge: Sie können natürlich trotzdem weiterlesen.
Schließen Sie einfach diese Meldung und sichern Sie sich das andere exklusive Angebot auf der Seite. Bei Fragen hilft Ihnen unser Kundenservice unter 07131/615-615 gerne weiter.
Kommentare