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"Wir betrachten die soziale Isolation zu wenig"

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Im Interview spricht Ursel Wolfgramm vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Baden-Württemberg über die Verlierer der Corona-Pandemie und sagt: Wenn wir die Probleme ignorieren, fallen sie uns später auf die Füße.

Ursel Wolfgramm, die Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Foto: dpa
Ursel Wolfgramm, die Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Foto: dpa  Foto: Philip Schwarz (dpa)

Im Interview spricht Ursel Wolfgramm vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Baden-Württemberg über die Verlierer der Pandemie und sagt: Wenn wir die Probleme ignorieren, fallen sie uns später auf die Füße.

 

In der Pandemie geht es viel um Inzidenzen, die Folgen für Gastronomie und Einzelhandel, um Schulen, Tests und Impfung. Wen vergessen wir?

Ursel Wolfgramm: Es sind leider ganz, ganz viele Menschen, die von den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sehr stark betroffen sind und in der Betrachtung kaum eine Rolle spielen.

 

Konkret?

Wolfgramm: Kinder zum Beispiel. Eine aktuelle Studie der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf kommt zum Schluss, dass eines von drei Kindern psychologisch behandelt werden sollte.

 

Dabei kreisen die Diskussionen doch ständig um Bildung und das Für und Wider von Schulöffnungen und -schließungen.

Wolfgramm: Dadurch reduzieren wir die Welt der Kinder auf Schule und Kita und betrachten die soziale Isolation zu wenig. Kinder verhalten sich bereits wie kleine Erwachsene. Sie werden ständig gemaßregelt: Mach dies, setz dich hin und lerne, sei leise. Wir disziplinieren sie. Die für ihre Entwicklung so wichtigen Treffen mit Gleichaltrigen werden stark eingeschränkt. Wir sprechen viel über den möglichen Bildungsverlust. Dabei wird ihnen ein Stück weit die Kindheit genommen.


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Die Corona-Pandemie als seelische Zerreißprobe für manche Menschen


Das trifft nicht auf alle Kinder zu, oder?

Wolfgramm: Man muss zwischen privilegierten Familien und Familien in prekären Verhältnissen unterscheiden. Es trifft besonders Kinder in kleinen Wohnungen, wo es keinen Rückzugsort gibt, Kinder, die einen Sprachkurs besuchen sollten, spezielle Förderung benötigen oder die aufgrund einer Behinderung nicht wie andere am digitalen Unterricht teilnehmen können. In Familien mit massiven Existenzängsten, in denen Eltern befürchten, die Miete nicht mehr zahlen zu können und deshalb Angst haben, die Wohnung zu verlieren, nehmen Tabak- und Alkoholkonsum zu.

 

Was belastet Kinder außerdem in der Pandemie?

Wolfgramm: Sie fühlen sich schuldig. Sie denken, sie seien vielleicht die Person, die verantwortlich ist, wenn sich jemand anderes ansteckt, jemand in der Kita, Freunde, Eltern, Großeltern.

 

Welche Folgen hat das?

Wolfgramm: Mädchen ziehen sich zurück, sie neigen zur Magersucht, ritzen sich. Jungen werden häufiger körperlich und verbal aggressiv. Die Jugendbefragung zeigt, dass Jugendliche sich unfair behandelt fühlen. Supermärkte sind ohne Einschränkungen geöffnet, aber der Jugendclub hat zu. Dazu kommen Zukunftsängste. Machen sie einen schlechteren Schulabschluss? Finden sie keine Lehrstelle oder bekommen sie den erwünschten Studienplatz nicht?

Was können Städte und Gemeinden dagegen tun?

Wolfgramm: Wir müssen stärker mit Jugendlichen reden und fragen, was sie denken, welche Ideen sie haben, damit etwa der Jugendclub wieder öffnen oder wie Begegnung unter Gleichaltrigen hygienekonform stattfinden kann.

 

Welche Auswirkungen stellt der Paritätische Wohlfahrtsverband bei Erwachsenen fest?

Wolfgramm: Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen wie Teilzeitbeschäftigte oder Menschen in Kurzarbeit haben Existenzängste. Sie befürchten, arbeitslos zu werden. Wer Arbeitslosengeld II oder Hartz IV bezieht, droht finanziell weiter abzurutschen. Bis Anträge bearbeitet sind und Gelder etwa vom Jobcenter fließen, vergehen oft Monate. Es gibt derzeit kaum Weiter- oder Fortbildungen. Erst jetzt, nach einem Jahr Pandemie, gibt es erste Modellprojekte für digitale Beratungsangebote. Warum so spät? Mal abgesehen davon, dass so mancher Langzeitarbeitslose oft nur eingeschränkt digitale Angebote nutzen kann. Vermittlung von Arbeitslosen in Jobs findet kaum statt.

Warum interessieren wir uns offenbar so wenig für Menschen am Rand der Gesellschaft?

Wolfgramm: Die Politik beschäftigt sich sehr stark mit den Leistungsträgern der Wirtschaft. Diese verfügen über eine große Macht und eine Lobby. Wir retten etwa den Flugverkehr. Die Gastronomie und die Hotels braucht die Gesellschaft auch in Zukunft, also wird überlegt, wie ihnen geholfen werden kann zum Beisüiel über Rettungsschirme und mit Überbrückungsgeldern. Psychisch Kranke, Menschen mit einem Suchtproblem, Schuldner, das sind die Menschen, für die immer Steuergelder aufgewendet werden müssen. Sie verursachen Kosten. Sozialverbände gelten vielfach als Geldvernichter, wir stehen am Ende der Wertschöpfungskette.

 

Welche Folgen wird die Pandemie haben?

Wolfgramm: Steigende Arbeitslosigkeit, Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, individueller Schuldenanstieg bis hin zum Verlust der eigenen Wohnung, Alkohol- und Tabakkonsum und Gewalt in Familien nehmen zu. Nächstes oder übernächstes Jahr werden wir wahrscheinlich mehr suchtabhängige Menschen haben, psychische Belastungen münden häufiger in Erkrankungen, Geflüchtete werden es schwerer mit der Integration haben. Und das Ziel einer inklusiven Gesellschaft wird durch Social Distancing Rückschritte erleben. Die durch die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen besonders Betroffenen werden nicht einfach wieder funktionieren. Das alles wird auch massive volkswirtschaftliche Schäden anrichten.

Was ist zu tun?

Wolfgramm: Unsere Hilfssysteme müssen nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar ausgebaut und stärker digitalisiert werden. Wir müssen schon jetzt weitere Schuldnerberater qualifizieren, die Wohnungslosenhilfe muss intensiviert werden und für Frauen in gewalttätigen Beziehungen müssen wir Beratung und Unterbringung garantieren. Wir dürfen nicht weggucken oder diese Probleme ignorieren. Sonst fallen sie uns nach der Pandemie auf die Füße. Wir müssen jetzt Geld in die Hand nehmen.

Zur Person
Seit Sommer 2015 ist Ursel Wolfgramm (Foto: privat) Vorstandsvorsitzende des Paritätischen in Baden-Württemberg. Geboren 1958, studiert sie Sozialpädagogik in Hamburg, absolviert eine Ausbildung zur Damenschneidermeisterin und studiert Betriebswirtschaft. Später ist sie unter anderem Geschäftsführerin der Deutschen Angestellten-Akademie DAA in Hamburg.

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