Wenn Kinder Kinder töten
Es ist diese Fassungslosigkeit, die bleibt, wenn Kinder zu Opfern von Kinder werden. Und die vielen, vielen offenen Fragen. Wie Kriminologen und Psychologen die jüngsten Fälle bewerten.
Kinder sind im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen in den vergangenen Tagen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. In zwei Fällen soll ein Elternteil die eigenen Kinder getötet haben. In zwei anderen Fällen stehen unter 14-Jährige im Verdacht, Kinder umgebracht zu haben. Sie gelten per Gesetz als straf-unmündig.
Besonders dann, wenn Kinder zu Tätern werden, herrscht in der Bevölkerung die nachvollziehbare Frage nach dem Warum. Der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer (79) warnt jedoch vor vorschnellen Schlüssen und nimmt eins vorweg: "Kinder, die Täter werden, haben überproportional ein schweres Schicksal erlebt und sind in entsprechenden Situationen schlecht in der Lage, psychische Verletzungen wegzustecken."
Insgesamt sei das Töten von Menschen in den vergangenen Jahren in Deutschland kontinuierlich immer weiter zurückgegangen. So seien im Jahr 2000 in Deutschland 960 Menschen getötet worden, im Jahr 2022 seien es 513 gewesen. "Deutschland ist ein sicheres Land", sagt Pfeiffer.
Ursprung liegt in der Erziehung
Werden Kinder zu Tätern, liege der Ursprung in der Erziehung und dem, was sie erlebt haben, erklärt der Experte. Bei Kindern, denen vor ihrem zwölften Lebensjahr im Familienbereich Gewalt widerfahren ist, bestehe zu 35 Prozent die Gefahr, dass sie als Jugendliche gewalttätig werden.
In die Diskussion mischt sich die Forderung, die Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre zu senken. Pfeiffer befürwortet das nicht und hält die Diskussion für unsinnig. Es handle sich bei unter 14-Jährigen um eine extrem seltene Tätergruppe. Senke man das strafmündige Alter, würde man eine Gruppe von 1,6 Millionen Kindern kriminalisieren. "Bei Kleinigkeiten wie Schwarzfahren oder Sachbeschädigungen wäre die Polizei verpflichtet, aktiv zu werden. Dort müsste personell aufgestockt werden."
In der Region Heilbronn sind straffällig gewordene Kinder und Jugendliche ein Fall für das Haus des Jugendrechts. Dessen Leiter Michael Dzillack erklärt, dass ihm in der Region kein Fall bekannt sei, bei dem ein Kind von Kindern getötet wurde. "Nicht einmal ansatzweise." Das Team im Haus des Jugendrechts besteht aus Polizeibeamten, Staatsanwälten sowie Vertretern der Jugendämter und des Amtsgerichts.
Mit Gewalt aufgewachsen
Hauptsächlich habe man es mit Delikten wie Nötigung oder Bedrohung zu tun, erklärt Dzillack. Begehen Kinder oder Jugendliche eine Körperverletzung, stellt er die Frage: "Was wird Kindern daheim vorgelebt?" Man stelle oft fest, dass sie mit Gewalt aufgewachsen seien. "Das Gewaltbild ist ein anderes. Das überträgt sich in den Kindergarten- oder Schulbereich", sagt Dzillack.
Bei straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen lädt das Jugendamt der Stadt Heilbronn die Eltern zu einem Gespräch ein, erklärt Mathias Retzbach, Abteilungsleiter des sozialen Dienstes. Man biete Beratungsangebote oder schaue sich an, ob Eltern mit den Kindern überfordert seien. "Das geschieht erst einmal auf freiwilliger Basis", sagt der 39-Jährige. Es sei wichtig, den Einzelfall zu betrachten. "Das Kindeswohl darf nicht gefährdet sein."
Kommt es zu Tötungsdelikten von Kindern, müsse man sich die Tat genau anschauen, erklärt Renate Schepker (68) vom Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg. Sie ist Vorstandsmitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein früh erworbenes Verhalten gegenüber anderen Menschen spiele eine Rolle. "Der Mensch ist in seiner Grundhaltung nicht von Natur aus aggressiv", betont Schepker.
Zahlen zu Straftaten
2021 wurden in Deutschland laut polizeilicher Kriminalstatistik knapp 1,9 Millionen Tatverdächtige registriert. Das sind 3,9 Prozent weniger als im Jahr zuvor. 223 614 aller Tatverdächtigen waren jünger als 18 Jahre. Der Anteil der Kinder (0 bis unter 14 Jahre) an allen Tatverdächtigen lag bei 3,6 Prozent.



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