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Transidentität: "Ich hatte riesige Angst, alles zu verlieren"

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Susanne Leiser erzählt im Stimme-Interview davon, dass sie sich mehr als 50 Jahre lang selbst verleugnet hat und was das mit ihr gemacht hat. Ein Gespräch über Aufklärung und Akzeptanz.

Susanne Leiser ist froh, dass sie nach vielen Jahren den Schritt gewagt hat, dazu zu stehen, was sie ist: transident. Der Weg dorthin war hart.
Foto: Veigel
Susanne Leiser ist froh, dass sie nach vielen Jahren den Schritt gewagt hat, dazu zu stehen, was sie ist: transident. Der Weg dorthin war hart. Foto: Veigel  Foto: Veigel, Andreas

Was ist schon normal? Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Und was macht es mit einem, wenn man sich fast sein ganzes Leben lang verleugnet? Susanne Leiser (61), 1,78 Meter groß, Wildleder-Mary-Janes mit hohem Absatz, manikürte Fingernägel, ist eine Erscheinung. Sie strahlt.

Nichts deutet darauf hin, dass sie lange unter Depressionen litt, einen Nervenzusammenbruch und Suizidversuche hinter sich hat. Seit ihrem Outing als Transidente geht es ihr gut. Sie weiß jetzt: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Nun gründet sie eine Selbsthilfegruppe in der Region zu Transidentität und schreibt ein Buch.

 

Frau Leiser, was ist die richtige Bezeichnung, transident, transsexuell?

Susanne Leiser: Transident ist der Überbegriff. Da fällt transsexuell drunter, transvestit. Die offizielle Bezeichnung ist transsexuell. Aber viele von uns haben ein Problem damit, weil es impliziert, dass es etwas mit Sexualität zu tun hat. Dabei geht es im Grunde um Geschlechts-identität. Es bedeutet, dass die psychische Geschlechtswahrnehmung eine andere ist als die körperlich vorhandene.

 

Wie möchten Sie bezeichnet werden?

Leiser: Als Frau Leiser.


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Wie wichtig ist es, dass Menschen wie Sie öffentlich werden?

Leiser: Kommt darauf an. Transsexuelle Menschen sind ja keine Dragqueens, die es in die Öffentlichkeit zieht. Sondern Leute, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen und die die Seite wechseln möchten. Die aber gern in der Masse verschwinden möchten. Was ich wichtig finde, ist die Akzeptanz der Menschen. Dass es zum Alltag so dazugehört, dass es nichts Besonderes mehr ist. Erst dann sind wir wirklich integriert.

 

Kann mehr öffentliche Wahrnehmung denn nicht zu mehr Akzeptanz führen?

Leiser: Das Wichtigste ist erstmal Aufklärung. Ich habe es schon selbst mehrmals erlebt, dass mir gesagt wird, Transsexualität sei eine sexuelle Spielart. Und das ist es nicht.

Wie sind Sie aufgewachsen? Wann haben Sie gemerkt, dass Sie anders sind?

Leiser: Wann verhält man sich geschlechtsuntypisch, wenn man nicht weiß, was typisch ist? Ich habe mich immer so verhalten, wie ich vermutet habe, dass es richtig ist. Mit sechs Jahren habe ich zum ersten Mal gesagt, dass ich lieber ein Mädchen wäre. Weil das Nachbarsmädchen einen Stufenrock und rosa Ballerinas trug. Da habe gesagt: ,Das will ich auch." Dann kamen die typischen Sätze: ,Das tragen Buben nicht, das ist nur für Mädchen. Buben haben keine langen Haare, ein Bub heult nicht." Das war für mich als Kind sehr belastend. Mit elf Jahren war ich so weit, dass ich meinen ersten Selbstmordversuch gemacht habe, mit einer Scherbe meines kaputten Fahrradlichts (zeigt Narbe an der Pulsader).


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Wie haben andere Kinder auf Sie reagiert?

Leiser: Dass ich anders war, hat so direkt niemand gemerkt. Das Offensichtlichste wäre gewesen, dass ich mich unter Jungs nicht wohlgefühlt habe, dass ich meist mit Mädchen zusammen war. Fußball habe ich nie gespielt. Ich wurde nicht beschimpft, aber öfter außen vor gelassen. Das war schwer.

Gab es eine Initialzündung, das Leben zu ändern?

Leiser: Als Erwachsener gab es immer wieder Phasen, wo ich mir gegengeschlechtliche Kleidung gekauft habe. Bei mir begann es mit einem Rock und Schuhen. Die Sachen habe ich versteckt. Und irgendwann kommen immer die ernüchternden Gedanken: ,Bist du bescheuert? Du bist ein Mann." Dann packt man alles zusammen und schmeißt es fort. Das Problem ist, es ist damit nicht erledigt. Und die Phasen zwischen diesen Phasen werden immer kürzer. Meine letzte Phase war dann so, dass ich zwei große Müllbeutel voll hatte.

 

Wie alt waren Sie da?

Leiser: 47, 48 Jahre alt.

 

Seit wann leben Sie als Frau?

Leiser: Seit 2018. Bis dahin hab ich mich selbst verleugnet.

 

Das stelle ich mir sehr anstrengend vor.

Leiser: Das ist es auch. Ich habe insgesamt drei Selbstmordversuche gemacht. 2006 hatte ich einen Nervenzusammenbruch, da war ich sechs Wochen in Weinsberg, 2010 einen Beinahe-Zusammenbruch mit psychosomatischer Reha, 2015 auch, und auch 2017 war ich kurz vor einem Zusammenbruch. Da habe ich gesagt, jetzt reicht's, jetzt muss sich was ändern. Da kam die Entscheidung fürs Outing.

 

Was hat sie so lang davon abgehalten?

Leiser: Ich hatte riesige Angst, alles zu verlieren. Angst vor dem, was die Familie sagt. Meinen Sohn zu verlieren. Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Ich hatte Angst, umziehen und mein soziales Umfeld aufgeben zu müssen.

 

Aber sie haben es trotzdem gewagt. Warum?

Leiser: 2015 habe ich an einem Trans-Frauen-Wochenende teilgenommen, abends sind wir nach Karlsruhe gefahren zum Trans-Talk, einer Selbsthilfegruppe. Aus Heilbronn waren Leute da, aus Stuttgart. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich hab mich entschieden, da öfter hinzugehen. An einem Tag sind wir geschminkt worden, dann kam eine Fotografin für eine Fotoserie. Beim Abschminken nach der Fotosession sind mir die Tränen gekommen.

 

Wann hat das nicht mehr gereicht?

Leiser: Nach ungefähr einem Jahr. Man versucht, eine Täuschung aufrecht zu erhalten. Und das über rund 50 Jahre. Mein Nervenzusammenbruch war wohl das Resultat davon. Der erste Mensch, mit dem ich darüber gesprochen habe, war eine Arbeitskollegin. Sie hat mich dazu getrieben, dass ich ausspreche, was bei mir los ist. Ab da ist alles leichter geworden. Das Problem ist, dass man es für sich selbst abstreitet. Meiner Ärztin habe ich Bilder der Fotosession gezeigt, dann habe ich mit meiner Psychologin darüber gesprochen.

 

Sie haben fast ihr ganzes Leben als Mann gelebt?

Leiser: Man versucht, nicht aufzufallen, geschlechtstypische Arten und Unarten anzunehmen. Männer sind ein bisschen grobschlächtiger, ein bisschen direkter. Ein Mann sagt, was er denkt. Frauen sind einfühlsamer. Nach meinem Outing lautet oft die erste Frage einer Frau: Wie ist dein Name? Und der Männer: Stehst du jetzt auf Männer? Die Männer interessiert gleich die sexuelle Ausrichtung.

 

Wie lief das Outing?

Leiser: Zuerst hab ich mit meiner Mutter geredet. Ihre Reaktion vergesse ich nie. Wir sind vier Geschwister, alle männlichen Geschlechts. Meine Mutter hat immer ein Mädchen gewollt. Sie war ruhig. Ich habe gedacht, hoffentlich hat sie keinen Schlaganfall gekriegt. Dann hat sie gesagt: ,Ich habe mir immer ein Mädchen gewünscht, und jetzt hab ich ein erwachsenes!" Bei meinem Sohn hatte ich solche Angst. Er hat gesagt: ,Wer heute noch ein Problem damit hat, ist entweder ein Bauer oder dumm." Ich war wirklich sehr erleichtert. Ich habe mir einen Drei-Monats-Plan gemacht. Bei der Arbeit habe ich erst mit dem Betriebsratsvorsitzenden geredet.

 

Was war das Schwerste am Drei-Monats-Plan?

Leiser: Den ersten Tag als Frau ins Geschäft zu gehen. Zu wissen, jeder wird mich anschauen. Aber es ist jeden Tag leichter geworden.

 

Was war das Wichtigste?

Leiser: Die Namens- und Personenstandsänderung. Das zweite war die Brust-OP, weil das das Offensichtlichste ist, wenn ich schwimmen gehe zum Beispiel. Mein wichtigstes Ziel habe ich erreicht: Ich kann als Frau leben. Die geschlechts-angleichende OP hab ich im Hinterkopf, aber ich warte damit. Alles, was vorher war, kann ich wieder rückgängig machen.

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