Weshalb tötet eine Mutter ihr Baby? "In der menschlichen Psyche ist viel möglich"
Eine Mutter aus Lauffen soll ihr Neugeborenes kurz nach der Geburt umgebracht haben. Professor Markus Schwarz vom Zentrum für Psychiatrie in Wiesloch erklärt, weshalb der Beschützerinstinkt einer Mutter bei einer Kindstötung außer Kraft gesetzt ist.

Die Kriminalpolizei ermittelt nach dem Tod eines Säuglings in Lauffen. Die Ermittler gehen von einem Gewaltdelikt aus. Die 27-jährige Mutter des Neugeborenen wurde festgenommen. Wenn eine Mutter ihr Neugeborenes tötet, spielen nach Ansicht von Facharzt Markus Schwarz generell gesehen verschiedene Faktoren eine Rolle.
Weshalb tötet eine Mutter ihr Baby?
Dr. Markus Schwarz: Es gibt keine mir bekannte wissenschaftliche Untersuchung zu den Motiven, die statistisch valide wäre. Was wir wissen, ist, dass ein Spektrum an verschiedenen Faktoren eine Rolle spielt. Bei einer Kindstötung unmittelbar nach der Entbindung, in der die Frau ohne jede Unterstützung ist, muss von einer psychischen Extremsituation ausgegangen werden. In Einzelfall kann auch eine länger bestehende psychische Erkrankung ein zusätzlicher Faktor sein.
Was ist mit dem natürlichen Beschützerinstinkt der Mutter?
Schwarz: Das Töten eines Neugeborenen ist in den uns bekannten Fällen keine geplante Aktion. Das ist genau die Situation, wo solche Hemmungen außer Kraft gesetzt werden. In der menschlichen Psyche ist viel möglich. So wie die Wahrnehmung der eigenen Schwangerschaft, die bis zur Geburt verdrängt werden kann, so können plötzlich Schutzmechanismen schlicht wegfallen. Bestehende schwere psychische Erkrankungen, auch anhaltende Belastungen, Verzweiflung können eine Rolle spielen. Aber in jedem Fall muss der Affektdruck, also die Emotionalität, stark sein.
Frauen bemerken nicht, dass sie schwanger sind oder verdrängen es?
Schwarz: Verdrängte Schwangerschaften sind gar nicht so selten. Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland jährlich um die 1500 Fälle gibt, bei denen eine Schwangere bis in die 20. Schwangerschaftswoche hinein die Schwangerschaft gar nicht bewusst wahrnimmt. Bei etwa 200 bis 250 Fällen kommt die Geburt selbst für eine Schwangere ganz überraschend.
Das klingt bizarr.
Schwarz: Das ist der Fall. Der Mensch ist ein Verdrängungs-Organismus. Man kann sehr viel aus dem Bewusstsein verdrängen: Ich nehme es nicht mehr wahr, denke gar nicht mehr daran. Das ist nicht selten. Für Frauen in einer schwierigen Lebenssituation, in denen die Schwangerschaft höchst unpassend ist, kann das Verdrängen hilfreich sein: Es macht die Lebenssituation überschaubarer.
Kann es auch zu psychischen Erkrankungen während der Schwangerschaft oder dem Wochenbett kommen?
Schwarz: Das sind Raritäten. Psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit der Entbindung sind hingegen relativ häufig. Wir gehen heute davon aus, dass zehn bis 15 Prozent der Mütter, die ein Kind gebären, in den anschließenden Wochen an einer klinisch-relevanten Depression erkranken, in einem Prozent an einer Psychose.
Wie wirkt sich das aus?
Schwarz: Ziemlich häufig sind aggressive Fantasien dem Kind gegenüber, gerade in den ersten Monaten nach der Geburt. Solche Gedanken können sich geradezu aufdrängen und werden von den Müttern belastend und schuldhaft erlebt. Richtig diagnostiziert sind solche Zwangsgedanken nicht gefährlich, sie sind gut zu behandeln.
Was ist geschichtlich über Kindstötungen bekannt?
Schwarz: Es hat sie immer schon gegeben. Das Gretchen aus Goethes Faust hatte ein reales Vorbild in einem Frankfurter Dienstmädchen, dem Kindstötung vorgeworfen wurde. Die positive Nachricht ist: Die Tötung Neugeborener ist enorm zurückgegangen. Noch in den 1950er-Jahren kam es zu etwa 300 Kindstötungen pro Jahr. Heute ist das im Vergleich eine Seltenheit. Wir gehen von 50 Fällen pro Jahr aus.
Was ist der Grund für den Rückgang?
Schwarz: Es gibt wenig gute Untersuchungen. Die Annahme ist naheliegend, dass die Akzeptanz von Geburten außerhalb der Ehe und die Versorgungsmöglichkeiten für junge Wöchnerinnen viel besser sind als noch in den 1950er-Jahren. Es ist nicht mehr stigmatisierend, unverheiratet ein Kind zur Welt zu bringen. Müttern stehen weitreichende Hilfen zur Verfügung. Die sozialen Verbesserungen sind Gründe dafür, dass die Anzahl von Kindstötungen so erheblich zurückgegangen ist.
Gibt es einen Faktor, der bei allen Kindstötungen auftritt?
Schwarz: Das sind letztlich immer Einzelfälle, wie auch die juristische Würdigung hoch individuell ist. Es gibt natürlich Tötungen im Rahmen von familiären Konflikten, Verarmungssituationen oder einer sozialen Drucksituation. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann auch volle Schuldfähigkeit bestehen. Kindstötungen aus freier Entscheidung sind zweifellos Ausnahmen.
Dass Mütter voll schuldfähig sind, kommt selten vor?
Schwarz: Das ist meine Kenntnis als Psychiater. Es ist ausgesprochen naheliegend, dass eine Tötung im Zusammenhang mit einer besonderen Situation nicht geplant und nicht mit Absicht durchgeführt wird. Natürlich ist eine Schwangerschaft ohne Unterstützung, gar eine Entbindung ohne Hilfe für die Betroffene eine ganz dramatische Situation.
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die ihr Baby töten?
Schwarz: Auch Männer töten Kinder, Gott sei Dank sehr selten. Zumeist sind es dann keine Neugeborenen, sondern ältere Kinder. Wenn es zu Tötungshandlungen kommt, dann liegt regelmäßig massive Überforderung, nicht selten auch eine eigene Suchterkrankung des Täters vor. Oft bilden anhaltende Partnerschaftskonflikte den Hintergrund. Wir haben es mit einer anderen Psychodynamik zu tun.
Welchen?
Schwarz: Das sind eher längerfristige Überforderungen. Das Kind stört, der Vater ist überfordert und in seiner Impulskontrolle beeinträchtigt. Anders als Kindstötungen sind verschiedene Formen der Kindesmisshandlungen leider häufig. Sie können zu schweren körperlichen und zu bleibenden psychischen Störungen führen. Gott sei Dank ist die Wahrnehmung und die Einleitung von Hilfen für solche Fälle in der Gesellschaft und auch in der Medizin mittlerweile sehr weit vorangeschritten.
Zur Person: Professor Dr. Markus Schwarz (61), Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch. Dort befindet sich eine Mutter-Kind-Behandlungsstation. Schwarz ist Honorarprofessor und lehrt an der SRH Hochschule Heidelberg.


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