Suche nach Virus-Mutanten: Verwirrung um Zielvorgabe aus Stuttgart
Ende Januar hatte das Sozialministerium angekündigt, alle PCR-positiven Proben näher untersuchen zu lassen. Umgesetzt ist dieses Vorhaben offenbar nicht, wie Recherchen bei Gesundheitsämtern von Stadt- und Landkreis und den SLK-Kliniken zeigen.
Anfang der Woche meldete der Bayerische Rundfunk, dass die brasilianische Corona-Mutante P.1 bei 57 Menschen in Bayern nachgewiesen worden ist. Das Robert-Koch-Institut liste sie als besonders besorgniserregend, unter anderem, weil sie als "Escape"-Variante gilt - das heißt, die bisher eingesetzten Impfstoffe sind wahrscheinlich nur noch eingeschränkt wirksam.
Ausgangspunkt der Recherche ist Meldung über brasilianische Virusvariante in Bayern
Diese Meldung ist der Ausgangspunkt einer Recherche, die viel mehr Fragen aufwerfen als beantworten wird. Montag: Anfrage an das Sozialministerium (SM) in Baden-Württemberg: Wie verbreitet ist die Mutation im Land? Gibt es Ausbrüche in Firmen? Dieses Gerücht ist in Umlauf.
Anteil bei unter einem Prozent, heißt es aus dem Sozialministerium
Die Auskunft des SM-Sprechers fällt zunächst knapp aus: Man könne das so nicht bestätigen, heißt es. Kurze Zeit später kommt die Präzisierung: "In Baden-Württemberg wurden mit Stand 29.03.2021 bislang insgesamt 16 Covid-19-Variantenfälle mit einem Hinweis auf die besorgniserregende Variante P1 registriert, hierunter drei Fälle mit Bestätigung der Mutation durch Genomsequenzierung." Ihr Anteil liege in Baden-Württemberg und deutschlandweit unter ein Prozent. Ausbrüche seien bislang nicht beobachtet worden.
Vollgenomsequenzierungen sind sehr aufwendig
Um genau bestimmen zu können, welche genetischen Varianten von Sars-Cov-2 zirkulieren, bedarf es aufwendiger Untersuchungen. Im Januar hatte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) daher finanzielle Anreize für Labore geschaffen, um vermehrt Virusgenome zu sequenzieren - also sogenannte Vollgenomanalysen vorzunehmen. Nach den BMG-Plänen sollten bis zu fünf Prozent aller PCR-positiven Proben einer Vollgenomanalyse unterzogen werden.
Bei unter 70 000 Infektionen pro Woche sollte sich der zu untersuchende Anteil auf maximal zehn Prozent erhöhen. Am 30. Januar kam eine Meldung aus dem Sozialministerium in Stuttgart, von der einige Mediziner überrascht waren. "Die Landesregierung wird künftig die Proben aller positiven Corona-Tests auf Mutanten untersuchen lassen", hieß es darin. "Dafür sollen die Test-Labore sämtliche positiven Proben künftig an die Labore der Universitätsklinika des Landes weiterleiten."
Genaues Bild der Lage für Baden-Württemberg fehlt
Seit dieser Ankündigung sind zwei Monate vergangen, das Virus breitet sich in immer mehr Varianten in Deutschland und Europa aus. Hierzulande ist die britische Variante B 117 dominierend, ihr Anteil wird auf 90 Prozent geschätzt. Wie genau ist das Bild der Lage im Land?
Erneute Anfrage, diesmal an das Landesgesundheitsamt (LGA), an das das SM verwiesen hatte. "Mit welchem Anteil werden in Baden-Württemberg positive Covid-19-Tests sequenziert?" Das LGA erklärt sich für nicht zuständig. Das sei Thema von SM oder Wissenschaftsministerium (MWK). Aus dem MWK meldet sich ein Sprecher und teilt mit: "Leider muss ich Ihnen sagen, dass es bisher keine gesammelten Zahlen für das ganze Land gibt. Eine schnelle Nachfrage bei den Unikliniken Heidelberg und Mannheim ergab, dass es dort 100 Prozent sind."
Bei den Gesundheitsämtern von Stadt und Landkreis und an den SLK-Kliniken werden nur etwa fünf Prozent der positiven Proben sequenziert
Ratlosigkeit in der Redaktion. Was ist aus der Ankündigung vom 30. Januar geworden, alle positiven PCR-Tests sequenzieren zu lassen? Warum ist acht Wochen später kein Überblick möglich? Anfrage bei den Gesundheitsämtern von Stadt- und Landkreis Heilbronn und den SLK-Kliniken. Wie häufig wird eine Vollgenomsequenzierung veranlasst?
Dauer der Vollgenomsequenzierung: bis zu 14 Tage
SLK teilt mit: "Die SLK gibt zehn Prozent der positiven Proben (PCR) an einen labormedizinischen Kooperationspartner zur Sequenzierung weiter. Zudem Proben von Verstorbenen, bei denen man herausfinden möchte, ob es der Wildtyp oder eine Mutation war. Dies passiert nach Aufforderung des Gesundheitsamtes." Die Stadt Heilbronn schreibt: "Eine Gesamtgenomsequenzierung findet bei fünf Prozent der Proben statt." Vom Landratsamt heißt es, eine Vollgenomsequenzierung finde "nur in Ausnahmefällen statt", schon allein, weil diese bis zu 14 Tage dauere.
Sprecherin des Labormedizinverbands hält Vorhaben für nicht umsetzbar
Anruf beim Verband der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM). Geschäftsführerin Cornelia Wanke sagt, eine Vollgenomsequenzierung bei allen positiven PCR-Proben durchzuführen, halte sie für unmöglich. "Das ist, wie wenn Sie bei einem Buch jeden Buchstaben einzeln anschauen würden." Aufwand und Datenvolumen wären riesig.
Wissenschaftsministerium spricht nun von "Ziel der flächendeckenden Vollgenomsequenzierung"
Am Mittwoch meldet sich die Pressestelle des MWK erneut: "Ziel ist eine möglichst flächendeckende Vollgenomsequenzierung von Sars-Cov-2-positiven Proben", heißt es diesmal. Das Programm sei sehr gut angelaufen.
Christian Drosten sorgt mit seinem Podcast schließlich für Klarheit
Christian Drosten beantwortet im NDR-Podcast schließlich die Ausgangsfrage für Deutschland: "Im Moment sind P1 und 1351, also Brasilien- und Südafrika-Mutanten, trotz des Anstiegs von B117 auf über 90 Prozent immer noch im Ein-Prozent-oder-niedriger-Bereich. Die haben sich nicht vermehrt." Der Grund: Es gebe im Moment keine Bevölkerungsimmunität in Deutschland. "Das sind Immunescape-Varianten, die kommen nur hoch, wenn wir in der Bevölkerung schon eine Immunität haben."