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Pershing-Unglück
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Als auf der Heilbronner Waldheide der Motor einer Atomrakete explodierte

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Vor 40 Jahren schaute die Welt auf Heilbronn. Im Stadtwald explodiert der Motor einer Atomrakete. Journalist Gerhard Schwinghammer erinnert sich gut an das Pershing-Unglück vom 11. Januar 1985.


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Es war ein Freitag und es war bitterkalt. Vor 40 Jahren, am 11. Januar 1985, kurz nach 14 Uhr, explodiert auf der Waldheide das Triebwerk einer Pershing-II-Atomrakete. Drei Soldaten werden getötet, 16 teils schwer verletzt. Über dem Stadtwald hängt eine dunkle Rauchwolke. Die Verunsicherung ist groß. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen Nato und Warschauer Pakt steht Heilbronn im Brennpunkt der Weltöffentlichkeit und wird zu einem Zentrum der Friedensbewegung. Der Journalist und Autor Gerhard Schwinghammer (Jahrgang 1946) war damals als Stimme-Redakteur gleichsam an der Front. Er erinnert er sich gut an ein dunkles Kapitel Stadtgeschichte.

 

Sie sind ein Ur-Heilbronner. Was sind Ihre frühesten Erinnerungen an die Waldheide?

Gerhard Schwinghammer: Als Kind habe ich erleben müssen, wie mein Vater mit einem Bein aus dem Krieg kam. Er war trotzdem sehr aktiv und ist mit uns über die Waldheide bis Lehrensteinsfeld gewandert. Da war sie noch eine Heide. Es gab aber auch einen kleinen Flugplatz. Es war spannend, zu verfolgen, ob die Flieger über die Baumgipfel kamen. Auch später war ich oft mit meiner Familie oben, 1983 etwa. Plötzlich unheimlicher Lärm, eine Rakete stellt sich auf. Warum geht sie hoch? Kommt etwas aus Moskau?


 

Das klingt bedrohlich.

Schwinghammer: Keiner wusste damals genau, was da oben war. Da gab es eines Tages eine Idee. Kollege Hans Godel hatte ein Flugzeug in Echterdingen. Wir haben beschlossen: Wir fliegen einfach drüber. Ich weiß nicht, warum uns als junge Eltern dieser Wahnsinn befallen hat. Aber wir haben es gemacht. Wohl wissend, dass aus Ramstein vielleicht ein Düsenjäger kommen würde, der uns entsprechend behandelt. Wir machten Fotos, aber die durften nicht veröffentlicht werden, weil der Ressortleiter meinte, das Rathaus müsse die Pershing-Stationierung zuerst bestätigen. OB Weinmann stellte sich aber unwissend, bis zum Unfall war alles top secret, tabu. Als Journalisten haben wir das vor dem Unfall oft zu spüren bekommen, auch bei Texten.

 

Bestand denn beim Unfall von 1985 denn tatsächlich die Gefahr einer atomaren Katastrophe?

Schwinghammer: Die bestand immer, auch wenn es hieß, dass die Atomsprengköpfe nicht auf der Waldheide lagern, sondern in Siegelsbach oder Neckarsulm. Diese Logik zog nicht. Es ist kaum denkbar, dass man bei einem Angriff aus Moskau in weniger als zehn Minuten Sprengköpfe aus Siegelsbach per Hubschrauber auf die Waldheide bringen konnte. Es ist auch kaum denkbar, dass man zur Irritation des Gegners mobile Raketenabschussbasen durchs Unterland fuhr, ohne dass sie einsatzbereit waren. Deshalb mussten auf der Waldheide Atomsprengköpfe sein.

 

Wie war damals die allgemeine Stimmung?

Schwinghammer: Die einen wollten den Frieden durch immer weniger Waffen schaffen, die anderen setzten auf Abschreckung. Dieser tiefe Riss trennte auch die Heilbronner Bevölkerung. Nach dem Unfall war plötzlich alles anders. Bürger aller Schichten protestierten, gingen auf die Straße, setzten sich vor die Tore der Waldheide und nahmen in Kauf, kriminalisiert zu werden. Wie Mutlangen war Heilbronn damals eine Art Mekka der Friedensbewegung.

 

Wie reagierte die Kommunalpolitik?

Schwinghammer: Das war ja schon vor dem Unfall ein ewiges Hickhack. Erst als der Verwaltungsgerichtshof ein Machtwort spricht, sieht sich Oberbürgermeister Manfred Weinmann 1984 gezwungen, das Thema auf die Tagesordnung des Gemeinderats zu setzen und erklärt: "Über die militärische Nutzung liegen der Verwaltung nur die Informationen vor, die auch jeder Bürger aus den Medien erhalten kann." So kommt es dazu, dass die Verwaltungsbank Ahnungslosigkeit demonstriert, während Räte mit Fotos von Pershings auf der Waldheide winken. Absurd. Keine zwei Wochen nach dem Unfall vollzieht sich ein totaler Wandel. Einstimmig, also auch mit den Stimmen der CDU und des OB, wird am 24. Januar 1985 die Verwaltung beauftragt, "die unverzügliche Beseitigung des Raketenstandortes Heilbronn zu fordern, weil Stationierungsorte grundsätzlich aus Ballungsgebieten zu entfernen sind."

 

Warum waren die Raketen ausgerechnet in Heilbronn stationiert, in einem Ballungsgebiet?

Schwinghammer: Wohl weil die Waldheide schon seit anno 1883 Militärgelände war, wobei der Großteil lange noch in der freien Natur lag, auch 1951 noch, als die US-Army aufzog. Aber zu Beginn der 1980er Jahre wurde sie immer weiträumiger eingezäunt und an der Nord-Ost-Ecke entstand ein regelrechter Hochsicherheitstrakt mit elektronisch gesicherten Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen - und Gänsen.


 

Wie kam es zum Abzug der Raketen?

Schwinghammer: Am 8. Dezember 1987 wird von Reagan und Gorbatschow ein Vertrag über den Abbau der Mittelstreckenraketen unterzeichnet. Bis Ende Mai 1991 müssten alle Raketen verschrottet und alle Raketen-Einheiten aufgelöst sein. In der Realität werden die Raketen nicht "unverzüglich" abgezogen, vielmehr wird die Waldheide vollends zur Festung ausgebaut. Am Antikriegstag, 1. September 1988, werden die ersten Raketen abgezogen. Ausgerechnet zum 5. Jahrestag des Pershing-Unfalls 1990 wird verkündet, dass die Waldheide weiterhin militärisch genutzt wird. Im April 1990 werden dann die letzten neun der vorher 36 Pershing-2-Raketen abgezogen. Am 17. November 1992 hat der letzte US-Soldat Heilbronn offiziell verlassen.

 

Wie ging es mit der Waldheide weiter?

Schwinghammer: Zunächst waren dort kurzzeitig Asylbewerber untergebracht, dann wurde das Gelände ab Mitte der 1990er Jahre renaturiert. Wer heute die Waldheide besucht, trifft dort Spaziergänger und Jogger, spielende Kinder vom benachbarten Waldkindergarten oder eine Schafherde. Allenfalls zufällig entdeckt er unweit eines ausgedienten Hubschrauber-Hangars einen kleinen Gedenkstein zum Pershing-Unglück. Für viele klingt es wie ein Märchen aus fernen Es-war-einmal-Zeiten , wenn sie erfahren, dass bis hier Atomraketen stationiert waren, die in zehn Minuten Moskau erreichen konnten.

Gerhard Schwinghammer 1953 mit den Eltern Herta und Manfred.
Gerhard Schwinghammer 1953 mit den Eltern Herta und Manfred.  Foto: Privat

 

Welchen Stellenwert hat der 11. Januar 1985 für die Heilbronner Stadtgeschichte?

Schwinghammer: Dieses Datum ist für Heilbronn so wichtig wie der 4. Dezember 1944. Wir sollten die Erinnerung daran genauso pflegen wie die an den Zerstörung der Stadt. Privat, in der Öffentlichkeit, in den Schulen. Vieles wird heute in der jungen Generation vergessen. Deshalb auch die Diskussion über eine Gedenkstätte im ehemaligen Hangar und heutigen Schafstall, das letzte Bauwerk von damals. Deshalb als Auftrag des Gemeinderates auch die Geschichtswerkstatt des Stadtarchivs, bei der aufwendig Details gesammelt wurden, die in eine Gedenkkonzeption auf der Waldheide eingehen sollen. Die Protokolle der Werkstatt umfassen 207 Seiten. Etliche Zeitzeugengespräche mit Historiker Thomas Schnabel sind noch im Gange.

 

Was sagen Sie, wenn Sie heute in die Ukraine und nach Nahost blicken?

Schwinghammer: Die Menschheit hat aus den vielen kriegerischen Ereignissen auf der Welt nichts gelernt. Sie diskutiert über Frieden mit mehr Waffen oder Frieden über Gespräche. Aber getan ist damit noch nichts. Es geht um unsere Zukunft, um die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Das sollte eine ständige Mahnung sein, ernsthaft über Frieden nachzudenken und entsprechend zu handeln.


Podcast zur Waldheide

Einen Podcast von Stadtarchiv und der Stimme Mediengruppe gibt es hier zum Anhören


Zur Person: Gerhard Schwinghammer, Jahrgang 1946, war nach freier Mitarbeit während des Mathematik-Studiums von 1973 bis 2002 Redakteur bei der Heilbronner Stimme, ab April 1990 als Chef vom Dienst. Dazu gehörte auch die Neukonzeption der Zeitung und die Einführung des „Echo“, wo er bis 2001 Geschäftsleiter und Chefredakteur war. Danach begann für den Autor zahlreicher Bücher eine freiberufliche Tätigkeit unter anderem für den Weinbauverband Württemberg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei etlichen Vereinen, vor allem im Kulturbereich.

 
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