Packender Zeitzeugen-Bericht zum Jahrestag der Zerstörung Heilbronns
Am 4. Dezember 1944 wird Alt-Heilbronn ausgelöscht. Mehr als 6500 Menschen sterben in dieser Nacht. Der letzte Türmer der Kilianskirche hat den Bombenangriff oben auf dem Turm erlebt. Zum 76. Jahrestag veröffentlichen wir seinen Bericht.

Vor 76 Jahren, am 4. Dezember 1944, fünf Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs, wird Alt-Heilbronn ausgelöscht. Zwischen 19 und 20 Uhr werfen 282 Lancaster-Flieger der British Air Force 1,2 Millionen Kilogramm Bomben auf die Stadt ab.
Zunächst markieren Leuchtraketen das Zielgebiet. Dann decken Trümmerbomben die Dächer ab. Brandbeschleuniger entfachen schließlich einen infernalischen Feuersturm, der alles niederwalzt. Im Stadtkern bleibt kein Gebäude heil. Mehr als 6500 Menschen - eine genaue Zahl gibt es nicht - kommen ums Leben. Sie verbrennen im Feuersturm, ersticken in Luftschutzkellern, werden von Trümmern erschlagen, von Splittern getroffen. Bis heute hat sich das Datum tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt, vielen Zeitzeugen lässt es keine Ruhe.
Doch sie werden immer weniger. Im Archiv der Heilbronner Stimme haben wir den Bericht des letzten Türmers der Kilianskirche entdeckt. Arthur Glöggler erlebte den Angriff und den Feuersturm tatsächlich auf dem Kiliansturm, hoch über der Stadt. Wir geben seine packenden Worte gekürzt und leicht redigiert wieder.
Uhrzeit 7 Uhr 6. Wir machten unsere Apparate fertig. 7 Uhr 7 waren die ersten Flugzeuge über der Stadt. 7 Uhr 8: Hauptalarm! Sirenengeheul kündigte das Unheil an. Zahllose Leuchtbomben wurden abgesetzt, welche die Stadt taghell erleuchteten. Das Stadtgebiet wurde abgegrenzt durch den Massenabwurf von Kaskaden, die in Traubenform leuchtend niedergingen. 7 Uhr 10 erfolgte der Angriff.
Blitzschnell reichte mir mein Kamerad das Mikrophongerät, um meine erste Meldung der Befehlsstelle durchzugeben. Diese hatte folgenden erschütternden Wortlaut: "Die ersten Bomben im Südviertel Ecke Wienerstraße (jetzt wieder Wilhelmstraße) und Südstraße gefallen. Die Stadt geht ihrer Vernichtung entgegen. Kräfteeinsatz unmöglich!" Diese Meldung sollte auch zugleich die letzte gewesen sein.
Wir sind verloren!
Das Verderben begann, ausgelöst durch 28 Minuten lang pausenlos niedersausende Spreng- und Brandbomben mit kaum auszuhaltendem, furchtbarem Getöse fast sinnesraubender Sprengwirkungen auf unsere arme, noch vor wenigen Minuten friedlich daliegende Stadt. Mein guter Robert schrie entsetzt: "Wir sind verloren!" Wie durch ein Wunder konnten wir unversehrt in die unter uns liegende große Glockenhalle flüchten. Was sich unseren Augen dort darbot, brachte unsere Sinne fast zum Erstarren.
Der Himmel war rot-grün-gelb-violett gefärbt, mächtig hohe Feuersäulen ragten gespensterhaft in den nächtlichen Luftraum, der von Staub- und Rauchwolken erfüllt war. Durch den stechenden Phosphorgeruch wurde uns die Atmung erschwert. Das Einstürzen und Bersten der Häusermassen, die niedersausenden Sprengbomben und fast nicht mehr auszuhaltender Luftdruck stellten die höchsten Anforderungen an die bis zum Äußersten gespannten Nerven. Wir waren dem Verzweifeln nahe. Ich ging einige Schritte vorwärts in dem Gedanken: "Unser Leben wird bald aus sein."
Furchtbarer Bombenhagel
Meinen Ohren nicht trauend, vernahm ich zu meinem Entsetzen donnerndes Motorengeräusch in allernächster Nahe. Es war mir sofort klar: Die Stadt wird im Tiefflug angegriffen! Mit ein paar Sätzen stand ich bei Robert. Wir pressten uns, einander festhaltend, an die Steinwand. Gleichzeitig setzte ein furchtbarer Bombenhagel ein, den zu schildern ich nicht imstande bin; so hässlich, höllisch, Verderben bringend wirkte dieses Zerstörungselement. Erdbebenhaft erzitterte und schwankte der Turm.

Diese schrecklichen Sekunden wurden uns zu Ewigkeiten. Blitzschnell rollte mein Leben wie ein Filmstreifen vor meinem geistigen Auge ab. Unserer Sinne fast nicht mehr mächtig, erwarteten wir das sichere Unheil, den Einsturz des Turmes, um in die Tiefe zu fahren. Für einen Moment schlossen wir die Augen.
Glocken rasen in die Tiefe
In dieser Pein qualvollen Erlebens und in diesen maßlos übersteigerten, grässlichen Ereignissen trat in unserem Körper eine gewisse Gefühllosigkeit von geradezu wohltuender Wirkung ein. Wir hätten es als ein Geschenk des Himmels angenommen, wenn uns der Tod ereilt hätte. Jedoch war uns solches nicht beschieden. Das Schicksal nahm weiter seinen Lauf und hatte den Höhepunkt seiner Furchtbarkeit noch nicht erreicht. Der Untergang der Stadt war im Vollzug und bot ein einzigartig, fürchterlich anzuschauendes Bild.
Die Hitzeentwicklung machte unseren weiteren Aufenthalt im Glockenraum unmöglich. Wir mussten heraus, wenn wir nicht als eine lebendige Feuersäule einem schrecklichen Tode ausgeliefert sein wollten. Der Glockenstuhl musste durch Brandbomben Feuer gefangen haben.
Plötzlich erfolgte ein fürchterlicher Donnerschlag. Ich spürte einen kräftigen Schlag gegen mein Gesicht und hatte das eigenartige Gefühl, meinen Kopf verloren zu haben. Im nächsten Augenblick wurden wir durch starken Luftdruck, dem Heulen eines gewaltigen Sturmes gleichend, vom Ausgang der Glockenhalle in die Wendeltreppe geschleudert. Wie durch ein Wunder waren wir heil geblieben.
Wir entschlossen uns zum Abstieg. Als wir im Turmaufgang etwa bis zur Hälfte abgestiegen waren, erreichte die Tragik ihren Höhepunkt und stellte alles bisher erduldete, qualvolle Erleben in den Schatten. Mehrere Volltreffer schwerer Sprengbomben fielen in die Häuserblocks der Windgasse. Der Turm erlitt dadurch furchtbare Zerstörungen.
Eingeklemmt zwischen Steinquadern
Die Wendeltreppe, auf der wir uns zum Abstieg befanden, kam zum Einsturz. Wir wurden in die Tiefe gerissen. Im restlichen, stehengebliebenen Drittel der Wendeltreppe vollzog sich nun das von uns so sehr gefürchtete und Grauenhafte - unsere Einklemmung unter den Sandsteinquadern. Ich war in Hockestellung zusammengedrückt und jeder Bewegung unfähig. Mein rechter Arm wurde durch einen zentnerschweren Stein weggestreckt gegen die Steinwand gepresst. Der Kopf wurde durch weitere Steinmassen gegen meinen eingeklemmten Arm gedrückt.
Robert lag aufs furchtbarste eingeklemmt über mir und drückte roh sein Körpergewicht gegen meine linke Achsel. Mit überwachen Sinnen waren wir uns über die Furchtbarkeit unserer Lage voll im Klaren. Wo sollte uns Hilfe herkommen? Sollten wir tatsächlich so elend zugrunde gehen? Mit allen verfügbaren Leibeskräften brüllten wir lange, lange Zeit nach Hilfe in die Nacht hinaus, in die in Schutt und Asche gelegte Stadt, die bereits Tausende elend umgekommener Menschen in sich barg.
Höllenqualen und Gottesfrage
Wo blieb mein Gott, dem ich so tief vertraut hatte? ,,Gott, mein Gott. Du hast mich verlassen! Warum? Warum?" Mein Glaube geriet ins Wanken. Nach kurzer Zeit durfte ich jedoch wieder seine Festigkeit zurückgewinnen. Ja, ich konnte sogar meinen Freund Robert in seiner Lage trösten und ihm Mut zusprechen. Die fast unerträgliche Hitze trocknete unsere Kehlen aus. Was hätten wir um einen Schluck Wasser gegeben! Die Feuersbrunst machte die Steine, unter denen wir uns befanden, glühend heiß. Es waren Höllenqualen. Zu diesem elenden Zugrundegehen verurteilt, schrie ich von neuem: "Herr unser Gott, gib uns Erlösung, lass uns sterben!"
Wir verbrennen bei lebendigem Leib
Unsere Kräfte ließen nach. Plötzlich wurden wir aufgeschreckt. Was war das? Hatte sich denn erneut die Hölle um uns aufgetan? Ein in seiner Unheimlichkeit schaurig wirkendes Getöse erfüllte die Luft. Kam nun das Ende? Ach nein, das Turminnere, die zwei Sturmglocken mit unserer Wachstube, der Glockenstuhl mit der großen, von Bernhard Lachmann im 15. Jahrhundert gegossenen Glocke, waren in die Tiefe gestürzt. In diesem Augenblick wünschten wir uns tatsächlich den Tod.
Durch einen Funkenflug veranlasst, schrie mein Kamerad plötzlich wie vom Wahnsinn befallen: "Feuer, Feuer, wir müssen bei lebendigem Leibe verbrennen!" Ich selbst war bereits teilnahmslos geworden. In völliger Erschöpfung schloss ich die Augen, tiefe Bewusstlosigkeit legte sich wie ein erbarmender Mantel über meine gequälten Sinne. Bis heute weiß ich nicht, wie lange diese Bewusstlosigkeit angehalten hatte.
Alles zum Thema
In dieser Multimedia-Reportage haben wir den Bombenangriff auf Heilbronn rekonstruiert.
Zwischen Rettung und Tod
Gegen 2 Uhr früh erhielten wir doch noch den Lichtstrahl einer Errettung. Ein alter Freund, Polizeimeister Franz Fuchs, hatte sich an den Turmaufgang herangeschafft und rief uns bei unseren Vornamen. Ich raffte meine letzte Kraft zusammen und rief so laut ich konnte: "Franz, Franz! Rette uns!" Wie Musik klang es an unsere Ohren: "Wir retten Euch, ich hol' ein Bergungskommando, haltet aus!" Es musste um die dritte Morgenstunde sein. Wie aus weiter Ferne vernahmen wir Stimmen. Es war unser Franz.
Unter größten Schwierigkeiten gelang es ihm und seinen Leuten überhaupt in die Nähe des Turmaufgangs zu kommen. Die Steine waren glühend heiß. Mit Feuerwehrleitern, Brecheisen und Lampen gingen die tapferen Kameraden an die Arbeit. Wir hörten immer wieder unsere Namen rufen, wie aus weiten Fernen. Instinktiv fühlten wir, dass wir antworten mussten, auch wenn die Kräfte fast nicht ausreichen wollten. Gegen 5 Uhr rief ich so laut ich konnte: "Franz, lieber Franz, komme bald, wir können nicht mehr!" In diesem Augenblick kam beim Bergen ein Stein ins Rutschen und machte unsere Lage noch verzweifelter.
Der Freund stirbt
Unsere Hoffnung auf Errettung war nun vollends geschwunden. Mein Kopf wurde noch mehr an meinen eingeklemmten linken Arm gepresst. Es war kaum mehr auszuhalten. Robert stöhnte nur noch. Ein großer Stein, der ihm schwer gegen das Herz drückte, brachte seine schwachen Lebenskräfte vollends zum Erlöschen. Gegen 6 Uhr hörte ich ihn mit schwacher Stimme sagen: "Ich muss jetzt sterben, lieber Arthur, ach, sterbe doch mit mir, gell, sterbe mit mir, vergib mir alles, wenn ich an Dir einen Fehler gemacht habe." Ich beruhigte ihn, dass er alles recht gemacht habe. Er fing an, zu röcheln, sein Körper streckte sich, und lastete noch schwerer als bisher auf meiner linken Achsel.
Mein armer Robert war gestorben. Erlöst von unsäglich harter Qual und wildem Schmerz, hatte ihm der Tod dir ersehnte Ruhe gebracht. Für mich war der Verlust meines Kameraden angesichts meiner verzweifelten Lage so schmerzlich, dass ich nur noch den einen Gedanken hatte: "Herr, lass mich ihm folgen."
Es war gegen 7 Uhr. Franz kam in seiner mühevollen Bergungsarbeit immer näher an mich heran. Deutlich empfand ich, wie ein Stein nach dem anderen über mir beseitigt wurde. Meine Kräfte drohten mich immer mehr zu verlassen. Unter Anspannung der letzten Willenskraft und mit übernatürlicher Hilfe konnte ich meine Besinnung noch erhalten. Eine Stunde später, um 8 Uhr früh, wurde ich freigelegt. In tiefer Bewusstlosigkeit wurde ich von der Unglücksstelle getragen.
Als ich wieder erwachte, befand ich mich im Krankenhaus Weinsberg Weißenhof.
Gedenken am 76. Jahrestag
Die traditionelle Gedenkfeier auf dem Ehrenfriedhof findet wegen Corona diesmal im kleinen Kreis statt. Ab 19 Uhr ist auf www.heilbronn.de ein Video abrufbar. Zudem gibt es unter stadtarchiv.heilbronn.de Ausschnitte der Ausstellung "Feuersturm – aus der Sammlung des Stadtarchivs" und unter heilbronnerfriedensweg.com einen virtuellen ökumenischen Friedensweg der Kirchen.