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Abgestempelt als psychisch krank

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Sandra Lorenz aus Lauffen leidet unter ME/CFS. Die 44-Jährige hat eine lange Ärzte-Odyssee hinter sich. Da ME/CFS auch nach Covid-19-Erkrankungen auftritt, hofft Lorenz genau wie andere Betroffene, dass jetzt endlich Geld in die Erforschung ihrer Erkrankung fließt.

 Foto: LEA ARING

Ich wusste nicht, was es ist. Jetzt hat das Ganze einen Namen", sagt Sandra Lorenz. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS, heißt die Krankheit, von der in Deutschland rund 250.000 Menschen betroffen sind, und die doch weitgehend unbekannt ist. Die ersten Symptome sind bei der Lauffenerin schon vor vielen Jahren aufgetreten: "Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann es mal gut war."

Im Jahr 2009 werden der Ehefrau und Mutter von drei Töchtern Depressionen diagnostiziert. Ob es wirklich welche waren und nicht doch die ersten Anzeichen von ME/CFS, stellt sie heute in Frage. Die Schmerzen in den Muskeln und den Nerven sind damals schon da, werden aber immer "schlimmer und dauerhafter". Die Ärzte stehen vor einem Rätsel.

Einzelhandelskauffrau kann nicht mehr arbeiten

Seit einem Jahr geht es der gelernten Einzelhandelskauffrau so schlecht, dass sie nicht mehr arbeiten kann. "Jetzt gibt es gar keine schmerzfreie Zeit mehr. Wie wenn man eine Wurst ins Wasser wirft, und diese irgendwann kurz vor dem Platzen ist", versucht Sandra Lorenz das Gefühl in ihrem Körper zu beschreiben. Weder Opiate noch Entspannungstechniken helfen dagegen. Dazu kommen Konzentrationsschwierigkeiten, Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung: "Selbst wenn ich geschlafen habe, bin ich nicht erholt", sagt die 44-Jährige. "Man muss sich das vorstellen wie einen Handy-Akku, den man abends einsteckt, der am Morgen aber nicht aufgeladen ist."


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Forschung zu ME-CFS steckt noch in den Kinderschuhen


Sandra Lorenz aus Lauffen. Foto: Claudia Kostner
Sandra Lorenz aus Lauffen. Foto: Claudia Kostner  Foto: Kostner, Claudia

Ihre Energie muss sie sich genau einteilen. Ganz alltägliche Dinge fallen ihr schwer. "Wenn in der Schule meiner Töchter Veranstaltungen waren, musste ich genau überlegen: Kannst Du da hingehen? Dabei will man das als Mutter doch", sagt Lorenz. Nach einem Arztbesuch kann sie den Rest des Tages zu Hause kaum noch etwas tun. "Ich will oft viel, aber ich schaffe es nicht. Man fühlt sich als Versager." Wenn Sandra Lorenz über ihre Grenzen geht, wie im Sommer, zum 18. Geburtstag ihrer Tochter, merkt sie, "wie es mich danach richtig crasht". Die Woche danach, die sie im abgedunkelten Schlafzimmer liegt, ist zum Glück noch die Ausnahme. "Ich hoffe, dass es so bleibt. Andere können gar nicht mehr aufstehen."

Ärzte sind ratlos

2020 erfährt Sandra Lorenz während eines Krankenhausaufenthaltes zur Magenband-OP, dass sie vermutlich Fibromyalgie hat - eine chronische Schmerzerkrankung, einhergehend mit Müdigkeit und Schlafstörungen. "Dann hat die Ärzte-Odyssee begonnen", erzählt Lorenz. Rheumatologe, Neurologe, Orthopäde, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Schmerztherapeuten, Krankenhäuser. Denn sie geht davon aus, dass noch mehr dahinter steckt als "nur" Fibromyalgie. Sie wird als psychisch krank abgestempelt, beginnt, selbst im Internet nachzuforschen. Dabei stößt sie auf ME/CFS. Erkennt sich darin wieder. Sammelt immer mehr Informationen. Trifft in Foren auf andere Betroffene. "Man merkt, dass man nicht die Einzige ist."

Carina Stephan aus Flein hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Alles beginnt nach einer Bronchitis vor drei Jahren. "Ich war immer ein aktiver Mensch, habe mich ehrenamtlich im Tierschutzverein Heilbronn engagiert, hatte gerade mein Masterstudium beendet und angefangen zu arbeiten", sagt die 31-Jährige. Inzwischen liegt sie fast den ganzen Tag im Bett, ist arbeitsunfähig und auf ihre Eltern angewiesen.

Auf ME/CFS ist auch Carina Stephan erst durch Eigenrecherche gestoßen, "nachdem mich kein Arzt mehr ernst nahm". Sie sei faul, hätte keine Lust zu arbeiten, heißt es. "Ich würde ja nicht krank aussehen, würde nur simulieren", so die Ökotrophologin. "Aber wenn ich nur keine Lust hätte zu arbeiten, würde ich doch meine Freizeit für andere Dinge nutzen und mich nicht 23 Stunden ins Bett legen und mir eine Krankheit aussuchen, die keiner kennt, und mit der es nur Schwierigkeiten gibt."

Ihr Krankengeld wird eingestellt, der Antrag auf Erwerbsminderungsrente abgelehnt. Nur 20 Prozent Schwerbehindertengrad werden der jungen Frau zuerkannt. Carina Stephan: "Ich muss für sämtliche Leistungen vor Gericht kämpfen, wo dann aber die Erkrankung auch wieder nicht bekannt ist."

Das kennt Sandra Lorenz alles nur zu gut. Ihr Krankengeld läuft zum 31. Dezember aus. Ihr Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde abgelehnt. "Mein Anwalt hat Widerspruch eingelegt." Sie würde lieber arbeiten gehen. "Aber ich schaffe es einfach nicht. Man steht verloren da, muss dafür kämpfen, dass es akzeptiert wird, dass man krank ist. Aber eigentlich kann man gar nicht kämpfen", beschreibt sie die Hilflosigkeit.

Viele in Sandra Lorenz" Umfeld können nicht mit ihrer Krankheit umgehen: "Man sieht, was echte Freunde sind." Dankbar ist sie dafür, dass ihr Mann, mit dem sie seit 19 Jahren verheiratet ist, zu ihr steht. "Ein anderer wäre schon weg."

Im Frühjahr stößt Lorenz über ein Internetforum auf einen Arzt in Hannover. Nach einer Videosprechstunde schöpft sie etwas Hoffnung: "Er war der Erste, bei dem ich mich verstanden gefühlt habe." Er rät der Lauffenerin zu speziellen Untersuchungen, für die sie bei ihrer Hausärztin Blut abnehmen lässt. "Das erste Ergebnis deutet auf ME/CFS hin", so Lorenz. "Ich bin froh darüber, jetzt kann ich sagen, ich bilde mir das nicht alles nur ein." Vergeblich sucht sie seit Monaten nach einem Arzt oder einer Klinik, die weitere Tests vornehmen können, zu denen ihr der Hannoveraner Mediziner geraten hat: "Handkraftmessung und Kipptischuntersuchung - niemand kennt das."

Seit ein paar Wochen leidet Sandra Lorenz unter "extremstem Schwindel". Einmal muss ihre Tochter den Krankenwagen rufen. "Ich habe eine Mappe mit allen Befunden und einer Erklärung, was ME/CFS ist. Die haben gesagt, sie hören zum ersten Mal davon", so Lorenz.

ME/CFS tritt auch nach Covid-19-Erkrankungen auf, weiß Lorenz. "Das spielt uns in die Karten", hofft sie für sich und andere Betroffene, dass jetzt endlich Geld in die biomedizinische Erforschung ihrer Erkrankung fließt. Bis zum 9. November haben ME/CFS-Patienten mehr als 90.000 Unterschriften für eine Petition zur Anhörung im Bundestag gesammelt. Unter dem Motto "Was wäre, wenn... Dein Leben plötzlich auf Pause steht?" wollen sie auf ihre "verzweifelte Lage aufmerksam machen". Nach dem 9. November sei es ruhig geworden in den Online-Foren, berichtet Sandra Lorenz: "Alle sind über ihre Grenzen gegangen."

250.000 Betroffene

ME/CFS ist seit 1969 von der WHO als Erkrankung des Nervensystems klassifiziert. Es handelt sich um eine schwere und gegenwärtig unheilbare Erkrankung, die zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. Allein in Deutschland sind geschätzt 250.000 Menschen, davon 40.000 Kinder und Jugendliche, betroffen. Es gibt derzeit kaum Forschung und keine Therapie. Die Krankheit tritt meist nach Virusinfektionen auf. Prominente Betroffene ist die frühere Piratenpartei-Politikerin Marina Weisband.

Gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt ME/CFS aufgrund der Corona-Pandemie, denn weltweit gehen Wissenschaftler davon aus, dass diese Erkrankung auch eine der Langzeitfolgen von Covid-19 ist, weswegen es alleine in Deutschland bald 100.000 zusätzliche Fälle geben könnte.

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