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Menschen aus der Region bedauern den Brexit

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Wer als Unterländer in Großbritannien oder als Brite in Heilbronn lebt und arbeitet, für den kann der Brexit große Auswirkungen haben. Sieben Beispiele von Menschen aus der Region.

Großbritannien verlässt in der Nacht zu Samstag die Europäische Union. Damit wird der EU-Austritt mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Votum der Briten Realität. Wir haben acht Menschen aus der Region mit Bezug zur Insel gefragt: „Was bedeutet der Brexit für Sie persönlich?“

 

Kerstin und Heiko Ludwig aus Obersulm und Bad Friedrichshall 

Beide 46, leben mit ihren Kindern in London, er ist Managing Director bei einer deutschen Bank, sie Inneneinrichterin.

Foto: privat
Foto: privat  Foto: Brexit

"In den vergangenen Jahren hat uns in Sachen Brexit die Frage beschäftigt: Wollen ihn die Briten wirklich mit allen möglichen Konsequenzen oder sind sie durch Fehlinformation und eine in Teilen sehr steuernde Presse quasi hineingerutscht? Die polarisierenden Tendenzen in der britischen Gesellschaft, die wir auch deutlich im eigenen Freundeskreis gespürt haben, rühren aus dieser unklaren Lage nach der Brexit-Abstimmung. Mit dem Sieg von Boris Johnson war die Frage geklärt - wir akzeptieren das demokratische Ergebnis. Diese Klarheit hat spürbar für Entspannung gesorgt. Persönlich hätten wir uns gewünscht, dass dieses lustige, spleenige und eigentlich weltoffene Land in der EU verbleibt und mit dem angelsächsischen Gemüt eine Balance zu den Kontinentaleuropäern herstellt. Dies ist aber auch eine typisch Londoner Sicht - meist nicht mit dem Rest des Vereinigten Königreichs zu verwechseln. Wir sind mit unseren Kindern in London wegen der Stadt - wahrscheinlich eine der genialsten und coolsten Städte des Planeten. Es wird auch ohne EU-Mitgliedschaft eine großartige, anstrengende, geschäftstüchtige und sehr vergnügte Metropole bleiben, in der man morgens niemals weiß, was der Tag bringt, man aber sicher sein kann, dass es niemals langweilig wird." 

Catherine Kern aus Öhringen

58, stammt aus Großbritannien und bezeichnet sich selbst als Deutsch-Britin, politisch in diversen Funktionen aktiv für die Grünen.

Foto: privat
Foto: privat  Foto: privat

"Ich besitze seit 2007 die deutsche Staatsangehörigkeit. Britin sein ist ein Teil meiner Identität und gekennzeichnet durch meinen Humor und Pragmatismus. Immer noch werde ich fast jede Woche gefragt, wo ich herkomme. Ich kann meinen Akzent nicht verleugnen und mache noch den einen oder anderen grammatikalischen Fehler. Wenn ich im Zuge des Brexit meine britische Nationalität aufgeben muss, wird mir das sehr schwerfallen, denn für mich bedeutet es, dass ich ein Stück meiner Identität aufgeben muss. Die EU wird sich ab jetzt anders entwickeln. Alle Entscheidungen werden ohne die Briten getroffen. Die europäische Gewichtung wird automatisch mehr in Richtung Osten gehen. Wenn ich bedenke, welche Art von Politik in Ungarn und Polen gemacht wird, macht mich das sehr nachdenklich. Die Briten haben seit Jahren eine gemischte Gesellschaft, haben sich immer für Frauen und Minderheiten-Rechte eingesetzt, das wird fehlen. Für einen offenen und tolerant denkenden Menschen wie mich ist das ein großer Verlust." 

Sven Neubert aus Untergruppenbach

59, Bootsvermieter und Mitinhaber einer irischen Firma.

Foto: privat
Foto: privat  Foto: privat

"Ich habe 18 Jahre lang in Irland gelebt und bin Mitinhaber einer irischen Firma, die derzeit 121 Boote auf dem Shannon und Erne an Touristen vermietet. Wir haben zwei Basen in Irland und eine in Nordirland. Ich bin überzeugt, dass der Brexit überhaupt keine Auswirkungen auf unser Geschäft haben wird, denn selbst zu den Hochzeiten des Nordirlandkonflikts ist die Flussgrenze nicht kontrolliert worden. Wir garantieren unseren Kunden, dass sie ihre Miete zurückerhalten, sollte ihr Urlaub durch den Brexit beeinflusst werden. Ich persönlich bin überzeugter Europäer und glaube, dass Großbritannien schwere Zeiten vor sich hat. Unser Mitgesellschafter, ein Nordire, der in Südengland lebt, ist Brexit-Befürworter. Durch meinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis zieht sich dieser Riss. Mit den Brexit-Anhängern lässt sich auch nicht diskutieren, die sind überzeugt von ihrem Standpunkt."

John Duncan aus Heilbronn

43, in Edinburgh geboren, jetzt in Heilbronn wohnhaft, arbeitet bei einem IT- Unternehmen. 

Foto: Berger
Foto: Berger  Foto: Berger, Mario

"Wir Schotten waren bei der Abstimmung mehrheitlich gegen den Brexit, die Engländer dafür. Ich kann nicht verstehen, dass sie so ignorant sind. Meine Eltern leben in Nordost-England - sie haben dafür gestimmt. Ich habe eine deutsche Frau und hier zwei Kinder, deshalb nehme ich die Entscheidung meiner Eltern komplett persönlich und kapiere sie umso weniger. Mein ganzes Leben hier habe ich der europäischen Idee zu verdanken - angefangen mit dem Erasmus-Programm. Mein Neffe, der in England lebt, hat mich kürzlich gefragt, ob er zum Studieren herkommen kann. Und meinen Kindern habe ich immer gesagt, ihr könnt vielleicht einmal zwischen Großbritannien und Deutschland pendeln. Doch werden auch sie vom Freedom of Movement (Personenfreizügigkeit, eines der Prinzipien der EU, Anm. d. Red.) profitieren? Kurz gesagt: Ich bin sehr enttäuscht und mega angefressen." 

Endaf Kerfoot aus Heilbronn

41, stammt aus Wales, wohnt jetzt in Heilbronn, Englischlehrer in Firmen.

Foto: Berger
Foto: Berger  Foto: Berger, Mario

"Es war ungefähr im vergangenen September, als ich an der Infotheke des Rathauses hier in Heilbronn stand. Ich sagte: 'Ich bin hier wegen des Brexit.' Die Dame hat mich nur groß angeschaut. Auch am Tag vor dem Brexit war ich bei der Ausländerbehörde. Die Aussage der Zuständigen war: 'Wir wissen gar nichts.' Vor Ende 2020 muss man wegen des Bleiberechts wohl nichts machen, aber man fühlt sich schon ein bisschen ahnungslos. Ein britischer Freund, der im Landkreis Heilbronn wohnt, hat zumindest schon einen Brief von den Behörden erhalten. Wenn ich an Ostern nach Wales fliege, wo meine ganze Familie lebt, hätte ich auch gerne etwas Amtliches im Gepäck. Die Frage, ob man bleiben darf oder nicht, läuft in Großbritannien aktuell besser als hier, wo niemand so recht weiß, wie es weitergeht. Die Brexit-Entscheidung an sich hat mich zunächst wütend gemacht, jetzt bin ich darüber nur noch zutiefst enttäuscht. Wenn man mich vor Jahren nach meiner Herkunft gefragt hätte, dann hätte ich geantwortet, dass ich stolz bin, aus dem Vereinigten Königreich zu sein. Heute sage ich lieber nur noch, dass ich Waliser bin." 

Pete Jones aus Neckarsulm

28, stammt aus Cardiff in Wales, wohnt seit 2017 in Neckarsulm, Musiker und Gitarrenlehrer.

Foto: privat
Foto: privat  Foto: privat

"Mir ist der Brexit peinlich, ich halte ihn für eine Schande. Europa ist für mich so wichtig und auch wenn nicht alles gut lief in unserem Verhältnis zur EU, hätte Großbritannien doch dabei bleiben sollen, anstatt einfach wegzurennen. Es ist anders gekommen und nach dem Hin und Her der letzten Jahre bin ich nun einfach nur froh, dass der Austritt mit dem heutigen Tag vollzogen wird. Klarheit gibt es trotzdem noch nicht in allen Punkten. Ich frage mich zum Beispiel schon, ob meine kleine Tochter, die die deutsche Staatsbürgerschaft hat, künftig noch problemlos Oma und Opa in Wales besuchen kann oder ob das nicht mehr so leicht möglich sein wird. Meine Frustration ist hoch."

Peter Marbach aus Heilbronn

59 - der Unternehmer hat seit vielen Jahren persönliche und berufliche Beziehungen zu Großbritannien.

Foto: privat
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"Wir sind seit 1984 an der Firma Arden Dies in Stockport beteiligt, und ich habe regelmäßig Kontakt mit dem Geschäftsführer Martin Poynter. Sein Vater Frank Poynter konnte damals auch mithelfen, die Städtepartnerschaft Heilbronns mit Stockport auf den Weg zu bringen. Persönlich kann ich die Entscheidung zum Brexit überhaupt nicht verstehen und hatte bis zuletzt gehofft, dass doch noch die Vernunft siegt. Wenn die Briten nach dem Ausstieg aus der EU aufwachen, wird das mit Schmerzen verbunden sein. Ich denke nur an die gravierenden Versorgungsprobleme auf der Insel, etwa mit Medikamenten. Und was ist mit der Freizügigkeit? Als Unternehmen haben wir rechtzeitig auf den Brexit reagiert und einige Maschinen und Mitarbeiter nach Deutschland verlegt. Das hat einige Arbeitsplätze in Stockport gekostet."

 

 
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