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Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weissenhof hat ein separates Therapie-Angebot

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Ein Stein kann Halt in angespannten Situationen geben. 600 bis 700 Patienten werden jährlich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Weinsberg behandelt.

Dieser junge Patient fertigt in der Ergotherapie aus einem Speckstein einen Skill-Stein. Er soll in ihn angespannten Situationen in die Hand nehmen.
Fotos: Mario Berger
Dieser junge Patient fertigt in der Ergotherapie aus einem Speckstein einen Skill-Stein. Er soll in ihn angespannten Situationen in die Hand nehmen. Fotos: Mario Berger  Foto: Berger, Mario

Mit dem blauen Seil schätzt die 16-Jährige den Umfang ihres Oberschenkels, so wie sie ihn empfindet. Therapeutin Natalie Seyfert reicht das gelbe Seil, um am Bein zu messen. Beide Kreise liegen nun auf dem Boden: Gefühl und Realität stimmen nicht überein. Die Jugendliche glaubt, sie sei zu dick, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Eine Körperschemastörung ist ein Symptom der Magersucht. Die Seilübung soll die falsche Wahrnehmung aufzeigen, erklärt Bewegungs- und Körpertherapeutin Seyfert. Ein breites separates Therapie-Angebot steht neben der medizinischen Behandlung den Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg zur Verfügung. "Wir sind ein bisschen ein eigener Campus", beschreibt Chefarzt Dr. Claas van Aaken die Lage der Gebäude am Rande des riesigen Gesamtkomplexes des Klinikums.

"Ich fühle mich hier sehr wohl", sagt die Jugendliche, die seit 2. Januar in Weinsberg ist. Die Bewegungstherapie und Seyfert findet sie toll. Auch die Ergotherapie, bei der die Stärkung in Alltagssituationen im Vordergrund steht, und die tiergestützte Therapie auf dem Klinik-Bauernhof gefallen ihr. "Es ist nicht so, dass es mir gut geht, aber ich merke schon, dass es mir gut tut", meint die Patientin. "Es macht einfach Spaß, etwas für sich zu tun", sagt ein anderer Patient im selben Alter.

In der Ergotherapie bei Jessica Kastenhuber macht er aus einem Speck- einen Skill-Stein. Den soll der 16-Jährige bei Herausforderungen, in denen er angespannt ist - etwa beim Busfahren - in die Hand nehmen, um besser mit der Situation klar zu kommen. "Die Schule ist auch ein wenig Therapie, da kann ich abschalten", sagt der Junge, der unter Zwängen leidet, was mit Ängsten einhergeht. Was gefällt ihm in der Klinik nicht? "Meine Krankheit", sagt er spontan. Und nach kurzem Überlegen: "Manchmal nervt das Achtsamkeitstraining. Eigentlich ist es ein bisschen langweilig."


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Jede Station hat mindestens einen Therapie-Hund

Aber da gibt es ja auch noch den Kraftraum oder die Musiktherapie, die neben Einzel- und Familiengesprächen ebenfalls auf seinem Wochenstrukturplan stehen. "Wir haben in den vergangenen Jahren die Fachtherapien stark ausgebaut", sagt der Chefarzt. Inzwischen hat auch jede der vier Stationen mindestens einen Therapiehund. Den Selbstwert stärken, Teamfähigkeit, etwa beim Fußballspielen, fördern, lernen, Gefühle auszudrücken, Eigenschaften wieder entdecken und anerkennen: Das sollen die Therapien bewirken. "Die Patienten sollen wieder ihre eigenen Erfolge sehen und selbstständig werden", ergänzt Kastenhuber.

"Es ist eine zutiefst sinnstiftende Tätigkeit", sagt van Aaken über seinen Beruf. Seyfert nimmt als Beispiel für ihren "erfüllenden Traumjob" die 16-Jährige, die alles aufsauge wie einen Schwamm. "Sie hat ein schwieriges Leben hinter sich und denkt jetzt wieder an eine Zukunft. Das war lange nicht möglich."

 


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Krankheitsbild noch nicht so verfestigt

Bei Kindern und Jugendlichen sei das Krankheitsbild noch nicht so verfestigt, so dass Behandlung und Therapie meist einen schnellen Erfolg zeigten, weiß van Aaken. Wenn die erste Magersucht behandelt werde, sei die Prognose, die Krankheit zu überwinden, bestens. "Der Mensch ist ja noch in der Entwicklung", flicht Seyfert ein.

Komplexe Welt führt zu Überforderung

Wahrnehmung und Realität: Natalie Seyfert lässt die Patientin einschätzen, wie dick sie ihren Oberschenkel empfindet und ihn dann mit einem zweiten Seil messen.
Wahrnehmung und Realität: Natalie Seyfert lässt die Patientin einschätzen, wie dick sie ihren Oberschenkel empfindet und ihn dann mit einem zweiten Seil messen.  Foto: Berger, Mario

"Die Schwelle, psychiatrische und therapeutische Hilfe anzunehmen, wird niedriger", stellt van Aaken fest. Dafür spreche, dass mehr Depressionen von Kindern und Jugendlichen diagnostiziert und behandelt würden als noch vor zehn oder 20 Jahren. "Die Gesellschaft ist sensibler geworden, was die psychische Gesundheit anbelangt." Aber sie sei auch komplexer geworden, die Welt unübersichtlicher, was zu mehr Überforderung führe und belaste. "Jugendliche sind hohen Erwartungen und Ansprüchen ausgesetzt", beobachtet er.

Psychische Erkrankungen, allen voran Magersucht und Depressionen hätten in der Pandemie zugenommen. Genauso wie suizidale Krisen, ausgelöst etwa durch eine Häufung familiärer Konflikte,berichtet van Aaken.

Plätze in der Fachklinik

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weissenhof verfügt über 42 stationäre Plätze, dazu kommt die Intensivstation für die Notfallaufnahme. Es sind zwölf Plätze in der Schulkinderstation (8 bis 13 Jahre), zehn in der Jugendsuchtstation und 20 in der offenen Therapiestation. 600 bis 700 junge Patienten werden laut Chefarzt Dr. Claas van Aaken jährlich behandelt. Zwölf Ärzte, sieben Psychotherapeuten und Psychologen sowie 83 Fachkräfte im Pflege- und Erziehungsdienst sind in dieser Fachklinik beschäftigt. Dazu kommen zehn Fachkräfte für die Ergo-, die Bewegungs- und Körpertherapie, die Musiktherapie und die Logopädie. Unter den Fachräumen ist auch einer für therapeutisches Bogenschießen sowie ein Kraftraum.

 
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