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Dr. Heinz Grunze: "Menschen mit Depressionen werden von vielen als charakterschwach gesehen"

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Vor allem während und durch die Pandemie haben viele Menschen gemerkt, welche enormen Auswirkungen die Psyche auf die Gesundheit nehmen kann. Stimmt!-Schreiberin Lea hat Angehörige und Betroffene psychischer Krankheiten gesprochen und Dr. Heinz Grunze vom ZfP Weinsberg zu dem Thema interviewt.

Von Lea Weißschuh
 Foto: Seidel, Ralf

Vor allem während und durch die Pandemie haben viele Menschen gemerkt, welche enormen Auswirkungen die Psyche auf die Gesundheit nehmen kann. Viele psychische Störungen wie beispielsweise Depressionen, Zwangs- und Angststörungen oder auch Essstörungen haben drastisch zugenommen. Doch gleichzeitig werden die Wartezeiten für einen Therapieplatz immer länger. Stimmt-Schreiberin Lea Weißschuh hat mit drei jungen Menschen aus der Region über psychische Erkrankungen gesprochen.

 

Asperger-Syndrom

„Mir fehlt Feingefühl für menschliche Interaktion"

Eine psychische Störung beziehungsweise auch tiefgreifende Entwicklungsstörung ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Bei den meisten Betroffenen ist die Kommunikation und Sprache beeinträchtigt sowie die soziale Interaktion gestört. Außerdem haben autistische Personen oft wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen. Überhaupt nicht zutreffend ist das Klischee, dass Autisten hochbegabt sind, denn die intellektuelle Begabung kann sehr unterschiedlich sein: von geistig behindert, durchschnittlich intelligent bis hin zu hochintelligent. Betroffen hiervon ist der 23-jährige Markus (Name von der Redaktion geändert): Er leidet an einer relativ schwachen Symptomatik der Autismus-Spektrum-Störung, genauer gesagt am Asperger-Syndrom.

Das Asperger-Syndrom zählt zum autistischen Formenkreis und wird als die „milde Form vom Autismus“ bezeichnet. Dank eines guten Therapeuten kann Markus mittlerweile sehr gut damit umgehen, so dass man ihm fast nichts anmerkt, sagt er. Jedoch überfordern ihn hin und wieder noch manche Bereiche wie beispielsweise Mimik und Gestik. Eine Herausforderung ist außerdem, Augenkontakt zu halten. Besonders schwer sind für ihn auch viele Reize, weshalb er oft mit Kopfhörern unterwegs ist, und neue Sozialsituationen. „Mir fehlt jegliches intuitive Feingefühl für menschliche Interaktion, wodurch das alles erlernt werden muss.“ Hilfreich findet der 23-jährige, Strukturen in seinem Alltag zu schaffen.

Anorexie

"Die Essstörung bedeutet für mich SIcherheit"

Die 22-jährige Amelie (Name von der Redaktion geändert) leidet seit ihrem 13. Lebensjahr an einer Essstörung, genauer gesagt an einer Anorexie: „Zuerst wollte ich nur ein paar Kilo abnehmen, und dann bin ich immer tiefer hineingerutscht.“ Amelie verliert drastisch an Gewicht, bis sie irgendwann in eine Klinik muss. Doch auch nach jahrelanger Therapie hat die 22-Jährige immer noch Schwierigkeiten in Bezug auf das Essen. Mittlerweile leidet sie an einer Mischform aus einer typischen Anorexie und einer Sportsucht. „Wenn in meinem Leben nichts kontrollierbar ist, kann ich das Essen immer kontrollieren. Ich kann damit alles betäuben, die Realität, den Schmerz. Die Essstörung begleitet mich schon so lange und bedeutet für mich einfach Sicherheit.“

Ein großer Trigger ist für Amelie Social Media, denn dort ist immer alles perfekt. Wenn sie die durchtrainierten, perfekten Körper der Fitness Influencer sieht, definiert sie die als Norm und strebt das auch an, sagt sie. Amelie betont: „Bei einer Essstörung geht es nicht um das Essen. Es geht darum, dass man den Körper als Ausdrucksmittel missbrauchen möchte, weil man es anders nicht ausdrücken kann.“ Eine Essstörung gibt Betroffenen ein Gefühl von Leistung, denn eine Gewichtsabnahme wird als Erfolg gewertet. Betroffene haben sehr häufig hohe Ansprüche an die eigene Person, sind perfektionistisch und definieren ihren Selbstwert über die Figur und das Gewicht. Des Weiteren erzeugt sie Kontrolle und Sicherheit.

 

Depression

"Ohne Vorwarnung ging es ihr schlecht"

Doch auch für Angehörige ist der Umgang und die Beziehung zu Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht immer leicht. Der 21-jährige Lars (Name von der Redaktion geändert), dessen Ex-Freundin an Depressionen sowie einer bipolaren Störung leidet, beschreibt die vergangene Beziehung zum Teil als sehr schwierig: „Oft waren wir verabredet, und dann hatte sie, ohne Vorwarnung, auf nichts mehr Lust, und es ging ihr schlecht.“ Lars war bewusst, dass weder seine Freundin noch er etwas für die Situation konnten, jedoch war es für ihn frustrierend, wenn sie ihm wieder einmal absagte. Ebenfalls belastend war für den 21-jährigen, dass solche Situationen sehr unvorhersehbar waren und er auch nicht wusste, ob und wie er helfen sollte.

In schwierigen Situationen hat es ihm geholfen, Abstand zu halten, erinnert er sich. „Es hört sich hart an, aber ich war selbst irgendwann fertig und konnte und wollte mich nicht mehr mit ihrer Gefühlswelt beschäftigen. Natürlich habe ich mich dann gefreut, wenn nach längerer Pause von ihr eine Nachricht kam.“ Er rät Angehörigen von psychisch Kranken, einfühlsam und für die andere Person da zu sein, sofern man das selbst mental kann. Und, wenn nötig, sich abzugrenzen oder einen Schlussstrich zu ziehen.


Interview mit Dr. Heinz Grunze

"Menschen mit Depressionen werden von vielen als charakterschwach gesehen" 

Dr. Heinz Grunze, Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie Gemeindenaher Versorgung am Klinikum am Weissenhof, erklärt im Interview, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Psyche junger Menschen hatte.

Wie hat sich Ihrer Meinung nach Corona auf die Psyche ausgewirkt?

Heinz Grunze: Dazu gibt es viele Hypothesen und Meinungen. Wenn man sich aber an den vorliegenden Daten und Untersuchungen orientiert, lässt sich sagen, dass überall auf der Welt etwa ein Drittel der Menschen unter Corona deutliche psychische Beeinträchtigungen erlebt haben. Dazu zählen vor allem Angststörungen und Depressionen. Am meisten betroffen sind eher junge Menschen

Wie haben die Quarantäne und die damit einhergehende Isolation dazu beigetragen?

Grunze: Dies lässt sich so erklären, dass der Mensch als Individuum eher schwach und von Grund auf ein soziales Wesen ist. Wenn uns der soziale Kontext verloren geht, brechen die sogenannten Urängste wieder auf, welche tief in unseren Genen verankert sind. Bei Menschen, die so[1]wieso anfällig für Depressionen sind, hat der Lockdown das mit Sicherheit verstärkt.

Wie entstehen vereinfacht gesagt psychische Erkrankungen?

Grunze: Psychische Erkrankungen sind ein Wechselspiel zwischen der Anlage, also dem Gen und der Umwelt. Unter der Umwelt versteht man, wie der Mensch aufwächst, Virusinfekte, körperliche Leiden, Prägungen… Für Depressionen oder andere psychische Krankheiten gibt es nicht nur ein Gen, sondern es sind sehr viele Gene, die aber in der Summe dann einen deutlichen Einfluss haben, ob jemand empfindlich ist für Depressionen oder nicht. Je nachdem, wie die Umwelt ist, kann sich die Depression dann herauskristallisieren. Was sind typische Vorurteile über Menschen mit psychischen Erkrankungen? GRUNZE: Menschen mit Depressionen werden von vielen als charakterschwach gesehen oder dass sie sich gefälligst am Riemen reißen sollen. Bei Suchtkranken ist es vermutlich das Vorurteil, dass diese unhygienisch, charakterschwach und antisozial sind.

Welche Tipps haben Sie für Betroffene, die vielleicht seit der Pandemie mit psychischen Problemen zu kämpfen haben?

Grunze: Das hängt stark von den Problemen ab, aber in jedem Fall würde ich raten, dass die Betroffenen sich professionelle Hilfe holen. Dies kann beim Hausarzt anfangen bis hin zum Psychiater oder Psychotherapeuten. Aber auch gute Freunde können helfen, indem man mit ihnen redet und sich aus der Isolation herausbegibt.

Welche Änderungsvorschläge haben Sie für unser Gesundheitssystem?

Grunze: Ich würde mir wünschen, dass politisch mehr mit Verstand gehandelt wird und nicht immer nach bloßen Zahlen. Und dass man mit mehr Augenmaß schaut, wo die Versorgungsengpässe sind. Es gibt immer weniger niedergelassene Fachärzte, die psychiatrische Patienten behandeln. Und dass psychiatrische Kliniken mehr gefördert werden und der Beruf eines Psychiaters, Gesundheits- und Krankenpflegers für Psychiatrie attraktiver gemacht wird.


Zur Person

Dr. Heinz Grunze ist Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie Gemeindenaher Versorgung am Klinikum am Weissenhof und zugleich Privatdozent für Psychiatrie. Er ist seit 35 Jahren als Psychiater tätig. Der Schwerpunkt seiner Arbeit dreht sich um affektive Störungen.

 




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