Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen Merken

Jüdisches Leben in Heilbronn erwacht langsam wieder

   | 
Lesezeit  3 Min
Erfolgreich kopiert!

Das Judentum in Heilbronn: Ein großes, spannendes und wechselvolles Kapitel Stadt- und Kulturgeschichte anlässlich des bundesweiten Gedenkjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland".

Direkt neben dem Postgebäude an der Allee stand die Heilbronner Synagoge. 1938 wurde sie in Brand gesteckt, 1940 abgerissen.
 Foto: Stadtarchiv Heilbronn
Direkt neben dem Postgebäude an der Allee stand die Heilbronner Synagoge. 1938 wurde sie in Brand gesteckt, 1940 abgerissen. Foto: Stadtarchiv Heilbronn

Eine Thorarolle lagert in Baltimore. Ein Schächtmesser und drei Fensterfragmente sind im Stadtarchiv ausgestellt. Im Botanischen Obstgarten wurden Sandsteinquader in Fundamente eingebaut, an der Allee 4 dient einer als Mahnmal. Fragmente, nicht viel mehr: Das ist vom Gotteshaus der jüdischen Gemeinde Heilbronn übriggeblieben. Aber die Nazis haben nicht das letzte Wort.

Eine neue Gemeinde ist im Aufbau

In den 1990ern wächst die Zahl jüdischer Bürger, vor allem durch Immigranten aus Russland, wieder an. 150 Mitglieder bilden heute mit Aktivposten Avital Toren zwar keine eigene Gemeinde, aber doch einen Zweig der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg. Seit 2006 verfügt man über Gebetsräume - gegenüber der 1938 zerstörten Synagoge. Das 1873 bis 1877 errichtete Gebäude galt als Höhepunkt der neo-orientalischen Stilphase im Synagogenbau. Es war so schön, dass es der Staat Israel 1988 auf einer Briefmarke "50 Years after Kristallnacht" verewigt hat. Dies lässt erahnen, welche Rolle das Heilbronner Judentum einst spielte.

Erste Synagogen, erste Pogrome

Heute, 2021, nach jüdischer Zeitrechnung anno mundi 5781, leben Juden seit 1700 Jahren im Gebiet des heutigen Deutschlands. 321 nach Christus erwähnt ein Edikt des Kaisers Konstantin eine jüdische Gemeinde zu Köln. Die Urkunde ist der älteste Beleg jüdischen Lebens in Nordeuropa. Bundesweit sind dazu zahlreiche Veranstaltungen geplant, auch in Heilbronn. Hier ist ein mit der Jahreszahl 1050 datierter Sandstein für "Nathan den Vorsteher" das älteste Zeugnis des Judentums. Er wurde in der einstigen Judengasse gefunden, der heutigen Lohtorstraße, wo die erste Synagoge stand, die 1298 oder 1349 bei blutigen Pogromen zerstört wurde. Von einer zweiten Synagoge wird 1357 berichtet - und von weiteren Pogromen.


Mehr zum Thema

Seit wenigen Jahren zeugt am Standort der ehemaligen Synagoge ein Chanukka-Leuchter vom jüdischen Lichterfest.
 Foto: Archiv/Sattar
Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen

Festjahr mit vielen Facetten


Nach drei Jahrhunderten Ansiedlungsverbot dürfen Juden erst 1831 wieder in Heilbronn wohnen. Der erste ist Isidor Veit, der hier eine Tuchfabrik gründet. Bald zieht es weitere jüdische Unternehmer an den attraktiven Handelsplatz am Neckar. Die neuzeitliche Gemeinde wird 1864 gegründet, wobei der Betsaal in einem Privathaus und später im Deutschhof schnell aus allen Nähten platzt. Nach langen, nicht unumstrittenen Planungen kommt es 1873 zur Grundsteinlegung für die Synagoge an der Allee 4. Zur Jahrhundertwende bildet sich in der Uhlandstraße 7 eine eigenständige orthodoxe Gemeinde.

Mit der Industrialisierung erfährt Heilbronn im 19. Jahrhundert einen rasanten Aufschwung. Die Stadt wächst, prachtvolle Gebäude entstehen. Juden tragen viel zum Aufschwung bei. Als Kulturschaffende, Anwälte, Bankiers und Ärzte setzen sie ebenso Akzente wie als Politiker, Kaufleute, Unternehmer. 1931 befinden sich 149 der 634 Firmen im Stadtgebiet in jüdischem Besitz.

Als die Nazis wüteten und mordeten

Doch mit der Machtergreifung durch die NSDAP tritt der scheinbar ewig schwelende Antisemitismus im März 1933 offen zutage. "Nicht-Arier" werden auf offener Straße verprügelt. Braunhemden rufen zum "Judenboykott" auf, beschmieren ihre Häuser, postieren sich vor jüdischen Geschäften, Kanzleien, Arztpraxen. "Unbekannte Täter" werfen Sprengkörper in Schaufenster. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht der Terror in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Die Synagoge wird in Brand gesteckt. Jüdische Geschäfte werden demoliert, Wohnungen aufgebrochen, Hausrat zerschlagen. SA-Trupps wüten selbst im jüdischen Altersheim. Nach dieser sogenannten "Reichskristallnacht" kehren immer mehr Heilbronner Juden ihrer Heimatstadt den Rücken. 1938 sind es 150, 1939 folgen 159. Meist flüchten sie in die USA und nach Großbritannien. Die Stadtverwaltung kauft gleichzeitig jüdische Anwesen zu Spottpreisen auf. Die israelitische Kultusgemeinde wird im August 1939 offiziell aufgelöst. Bei Kriegsbeginn werden die meisten noch in Heilbronn lebenden Juden in zwölf "Judenhäuser" eingewiesen und die meisten zur Zwangsarbeit verpflichtet. Bis 1945 ermorden die Nazis auf offener Straße und in KZs 234 jüdische Heilbronner, 600 gelingt die Flucht. Ihre Geschichte ist noch längst nicht zu Ende geschrieben.

Historiker haben noch viel aufzuarbeiten

Dabei ist die Stadt früh um Versöhnung bemüht. Hans Franke arbeitet 1963 in einem wegweisenden Buch die Historie der Heilbronner Juden von 1050 bis 1945 auf. Uwe Jacobi macht sich um Zeitzeugen verdient. Das Rathaus pflegt Kontakte zu Emigranten. 2004 konstituiert sich der Freundeskreis Synagoge, der mit Schülern die Aktion Stolpersteine unterstützt, die an Opfer der Nazis erinnert. Das Stadtarchiv hat nach der Nachkriegsstarre inzwischen unter Christhard Schrenk einiges nachgeholt. Aktuell laufen Forschungsprojekte zur Rolle des Rathauses in der NS-Zeit, zur Enteignung von jüdischem Besitz, zu Entschädigungsfragen - und zu den heutigen Eigentumsverhältnissen.

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
  Nach oben