Kommunen fordern klare Perspektiven bei Fragen zur Flüchtlingsunterbringung: "Es ist deutlich nach zwölf"
Schon mehrfach haben sie Alarm geschlagen: Bei der Erfüllung ihrer Pflichten fühlen sich die Kommunen vom Bund allein gelassen. Bürgermeistern schlägt bei der Unterbringung von Geflüchteten Unmut der Bevölkerung entgegen. Im Interview sprechen Vertreter des Gemeindetags über die Herausforderungen.

Wir sprachen mit den Vertretern des Landkreises Heilbronn beim Gemeindetag, Klaus Holaschke, Björn Steinbach und Ralf Steinbrenner über die Lage vor Ort.
Seit Monaten sagen die Kommunen, sie seien bei der Aufnahme von Flüchtlingen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Wann ist der Punkt erreicht, an dem Sie sagen müssen, es geht nicht mehr?
Klaus Holaschke: Die Herausforderungen sind so vielfältig, dass wir diese Grenze längst überschritten haben. Das Geld ist dabei nur ein Symptom. Was wir als kommunale Spitzenverbände fordern, haben wir in der Stuttgarter Erklärung dargelegt, die nicht nur in Baden-Württemberg auf sehr positiven Widerhall gestoßen ist. Weitere Faktoren über den finanziellen Aspekt hinaus sind etwa Überlastung der Verwaltungen. Wir sind seit ein paar Jahren nur noch im Krisenmodus, der sich nicht nur auf die Flüchtlingsunterbringung bezieht, sondern auch auf die Willkommenskultur. Die kommunalen Vertreter in Baden-Württemberg stehen unisono zum Asylgesetz und zum Recht auf Asyl nach dem Grundgesetz. Es geht nicht um das Wollen, sondern um das Nicht-mehr-Können.
2015 hatte man den Eindruck, dass die von Ihnen angesprochene Willkommenskultur noch sehr ausgeprägt war, sehr viele Menschen haben geholfen, haben sich engagiert. Inzwischen scheint das nicht mehr der Fall zu sein. Dreht sich der Wind?
Björn Steinbach: Nach Widerständen in Pfedelbach und Wüstenrot gab es kürzlich bei uns in Obersulm ein Bürgerbegehren, bei dem rasch weit über 1000 Unterschriften zusammenkamen. Ich habe in diesem Zusammenhang viele Gespräche geführt, bei denen eine große Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik deutlich wurde. Bei vielen Einwohnern ist dabei wohl der Standort zweitrangig. Da geht es eher darum, vor Ort mal ein Zeichen zu setzen, dass es so nicht weitergehen kann.
Die Bedenken haben sich also von der Standortfrage hin zu einem grundsätzlichen Protest gewendet gegen jede Form der Unterbringung, die Sie vorschlagen?
Steinbach: Zumindest bei den größeren Unterkünften scheint das so zu sein, dass sich Widerstand formiert. Man merkt jetzt: Die Menschen tragen das so wie bisher nicht mehr mit.
Ralf Steinbrenner: Wir haben es an den Beispielen im Kreis gemerkt, dass sich die Stimmung vor Ort wandelt - und das bereitet uns große Sorgen. Bund und Land setzen einen Rahmen, für den wir letztlich Erfüllungsgehilfen sind. Die Möglichkeiten, hier Varianten einzubringen, sind sehr überschaubar. Beim Wohnraum eignet sich mit Blick auf das Thema Integration eine dezentrale Unterbringung besser als eine zentrale. Das bedeutet, dass dafür wesentlich mehr Gebäude benötigt werden. Wir alle wissen, wie knapp und teuer Wohnraum ist. Wenn dann finanziell weniger Gutsituierte ein Gebäude oder eine Wohnung gefunden haben, und dann kommt die Kommune und sagt: Sorry, wir haben hier eine Pflichtaufgabe zu erfüllen und müssen unser Vorkaufsrecht ausüben, dann ist das sehr bitter und für uns sicherlich auch nicht vergnügungssteuerpflichtig.
Wie sieht es im nächsten Schritt bei der Hilfe zur Integration aus?
Steinbrenner: Es fängt an bei den benötigten Kita-Plätzen, geht über die Grund- und weiterführenden Schulen. Wenn sie Kinder haben, die nicht in die Kita gehen und dann in die Grundschule kommen, ergeben sich entsprechende Probleme in Sachen Kultur, Sprache oder Freundeskreis. Wir sind stolz darauf, dass wir ehrenamtliche Unterstützer haben, aber es ist bei jeder Flüchtlingswelle so: Wenn etwas akut ist, bringt sich immer eine höhere Zahl an Personen mit ein als ein Jahr später. Unsere Volkshochschulen und andere Einrichtungen haben ihre Angebote an Sprachkursen ausgeweitet, aber sie sind räumlich und vor allem personell am Ende. Wie im Bereich der Pädagoginnen und Pädagogen auch, haben wir nicht unbegrenzt Fachkräfte.
Holaschke: 2015/16 gab es in Sachen Flüchtlingsaufnahme von unserer Seite überhaupt kein Wenn und Aber. Die Realität, die öffentliche Wahrnehmung, die wir dagegen heute versuchen, in Richtung Land und Bund zu übersetzen, ist nicht mehr deckungsgleich. Nach dem Flüchtlingsgipfel im Mai bekommen die Kommunen zwar mehr Geld - 130 Millionen in Baden-Württemberg, für die wir auch dankbar sind. Aber letztlich verlieren wir bei den wichtigsten Maßnahmen wieder nur Zeit bis zum nächsten Gipfel. Sechs Monate, in denen sich die öffentliche Wahrnehmung nicht in eine positivere wandeln wird. Wir fühlen uns als Kommunen von der Bundespolitik nicht mehr ernst- und wahrgenommen.
Auf Landesebene sind die 130 Millionen Euro aber letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, oder?
Holaschke: Das Problem wird damit nicht an der Wurzel gepackt. Wir können in den Rathäusern einfach nicht mehr. Wir haben nicht das Personal. Das ist der große Unterschied zu 2015/2016: Wir stecken insgesamt in einer Konjunkturkrise. In der öffentlichen Verwaltung bekommen wir keine Leute mehr. Bei den ehrenamtlichen Helferkreisen hat sich eine gewisse Ermüdung - mancherorts auch eine Enttäuschung durch die Betreuten - eingeschlichen. Aktuell bekommen wir nur noch Unterkünfte für ukrainische Geflüchtete. Unterkünfte en gros gibt es nur noch, wenn wir uns als Kommune verpflichten, in den Mietvertrag einzusteigen, von den Mietzahlungen bis zum Mobiliar. Wir haben unsere ganzen Grundsätze in den letzten Jahren auf den Kopf gestellt. Es vergehen keine zwei Monate, in denen wir nicht im Gemeinderat vorschlagen, ein Gebäude zu kaufen - wenn wir es überhaupt noch bekommen angesichts der Wohnraumengpässe.
Bei einer Plenarsitzung in Stuttgart wurde jetzt ein Antrag der AfD für Schutzzonen an Kindergärten diskutiert...
Holaschke: Ich sehe eine große Gefahr darin, dass das, was die AfD dort - mit vielen guten Gegenargumenten widerlegt - laut gesagt hat, die gefühlte Stimmung ist, die immer stärker wird.
Das ständige Herumdoktern an Symptomen führt letztlich nicht weiter. Wäre es nicht angebracht, Einfluss auf die Rahmenbedingungen zu nehmen?
Holaschke: Wir artikulieren uns ganz deutlich gegenüber Bund und Land. Der Austausch mehrmals im Monat mit dem Ministerium von Marion Gentges ist gut. Die wissen, um was es geht. Der Bundestag hat beschlossen, dass die Ukrainer einen ganz anderen Status haben, als andere Flüchtlinge. Stichwort Bürgergeld: Wir können nachweisen, dass es da in anderen Ländern Bewegungen gibt. In diesem Beschluss sehen wir einen Kardinalfehler der Bundespolitik.
Steinbrenner: Dieser Beschluss ist auch die größte Hürde für eine europäische Einigung.
Steinbach: Man schafft Anreize, zu kommen. Bisher habe ich aber noch nicht den Eindruck, dass dies im Nachhinein als Fehler erkannt wird.
Sie sehen dahingehend also keine große Bewegung bei der "großen Politik"?
Steinbach: Im Bund nicht, das ist richtig. Dabei wäre eine kurzfristige Lösung, wenn Anreize wie das Bürgergeld zurückgenommen würden.
Holaschke: Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels wie Erleichterungen in den Baugenehmigungsverfahren oder die Digitalisierung der Ausländerbehörden und der öffentlichen Verwaltung sind sicher zu begrüßen - aber wir schaffen damit keinen Quadratmeter Wohnraum.
Steinbrenner: Man könnte die Situation mit einer Pizzeria vergleichen. Die Küche wird vom Bund zur Verfügung gestellt, den Einkauf der Lebensmittel übernimmt das Land, aber wir Kommunen sind diejenigen, die die Pizza an den Tisch bringen. Und der Tisch wird immer voller. Die ganzen Klagen, dass es nicht reicht, um alle satt zu bekommen, kriegt der Kellner ab... Wenn es nicht anders geht, muss ich früher oder später öffentliche Gebäude in Beschlag nehmen.
Der Befund und die möglichen Lösungen scheinen also klar. Haben sie eine Erklärung dafür, warum sich auf übergeordneter Ebene nichts bewegt?
Holaschke: Intellektuell werden wir verstanden, aber die politischen Statements sind kontraproduktiv. Wir sagen schon lange, dass wir keine Unterkünfte haben. Wenn die Innenministerin im Februar fordert: Bereitstellung von Liegenschaften auch auf kommunaler Ebene auf Reserve, dann ist das ein Schlag ins Gesicht.
Steinbach: Diese Entfremdung zwischen Bundespolitik und kommunaler Ebene stellen wir schon seit längerem fest. Aber gerade bei diesem Thema fragt man sich: Wo leben die eigentlich? Was kriegen die von der Basis noch mit, wenn sie solche Entscheidungen treffen oder nicht mal umschwenken?
Wie geht es in den nächsten Wochen und Monaten weiter?
Holaschke: Die Entscheidungsträger stochern im Nebel. Wir haben keine große Hoffnung, dass im Nikolaussack im November/Dezember etwas drin sein wird, das uns weiterbringt. Eigentlich sind wir perspektivlos. Aus unserer Sicht ist es schon lange nicht mehr fünf vor zwölf, sondern deutlich nach zwölf.
Steinbrenner: Wir sehen die ungeschönte Reflektion der Bevölkerung, was sie von der Politik von Land und Bund hält. Aber wir sitzen nicht mit am Tisch, wenn diese Gesetze gemacht werden. Wir müssen darum kämpfen, dass die kommunale Ebene dazugeholt wird. Wir werden uns bis Herbst wohl irgendwie durchmogeln in der Hoffnung, dass über den Sommer hinweg keine besonders großen Flüchtlingsströme kommen.
Es handelt sich also um eine institutionelle Krise?
Steinbach: Ja. Auch das Land können wir nicht ganz außen vor lassen. Wenn mit auslaufenden Verträgen die Aufnahmekapazitäten der Landeserstaufnahmestellen reduziert werden, ergibt sich daraus eine weitere Verschärfung. Die Aufgaben, die wir haben, und der Werkzeugkasten, um diese zu lösen, passen nicht mehr zusammen. Tut sich nichts, fahren wir die Sache an die Wand zu Lasten unserer Bevölkerung. Nicht, weil wir's nicht wollen, sondern weil wir es mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht können. Das ist unsere Sorge mit Blick auf Politikverdrossenheit und Proteste. Wir sind dabei in Erklärungsnot, dass wir nur das ausführende Organ sind für die Dinge, die in der großen Politik beschlossen werden.